Und wo bleibt das Kindeswohl? Fünf Zwischenrufe zum Betreuungsgeld
Martin R. Textor
Von nahezu allen Seiten wird das geplante Betreuungsgeld kritisiert; von vielen Menschen wird nur noch der Begriff „Herdprämie“ verwendet. Ich halte den Betrag von 150,- Euro einfach nur für lächerlich, da er kein Ausgleich für die hohen Kosten ist, die dem Bundesland und der Kommune bei der Bereitstellung eines Betreuungsplatzes entstehen, und da er als Honorierung der familialen Betreuungsleistung wie eine Verhöhnung von Eltern wirkt.
So gab die öffentliche Hand im Jahr 2010 im Bundesdurchschnitt 5.072 Euro für jedes in Einrichtungen und Tagespflege betreute Kind im Alter von 0 bis 14 Jahren aus [1] – die Betreuung durch Eltern soll hingegen nur mit 1.200 Euro (2013) bzw. 1.800 Euro (ab 2014) honoriert werden. Zudem symbolisiert dieser Betrag den Rückschritt beim Familienleistungsausgleich – schließlich gab es einmal ein bei weitem höheres Erziehungsgeld, das in einigen Bundesländern (z.B. Bayern, Thüringen) sogar drei Jahre lang ausgezahlt wurde. Interessant ist übrigens auch der terminologische Wandel: von „Erziehungsgeld“ über „Elterngeld“ zum „Betreuungsgeld“. Ob diese Begriffsentwicklung vielleicht symbolisiert, dass Erziehung heute woanders verortet wird als in der Familie? Doch dazu später.
1. Zwischenruf zur Hochstilisierung der Erwerbstätigkeit
Auffallend an den meisten kritischen Äußerungen zum Erziehungsgeld ist, dass in der Regel die Erwerbstätigkeit direkt oder indirekt höher bewertet wird als die Familientätigkeit: Der Beruf garantiere finanzielle Unabhängigkeit (von Ehemann bzw. Lebenspartner), eigene Selbstverwirklichung und innere Erfüllung. Das mag für Berufe wie die von Journalist/innen oder Wissenschaftler/innen stimmen, aber wie sieht es mit Berufen wie Verkäufer/innen, Raumpfleger/innen, Kellner/innen oder Kassierer/innen aus? Das mag sich etwas polemisch anhören, aber sicherlich werden Sie mir zustimmen, dass es auch eine andere Seite der Berufstätigkeit gibt: Langeweile, Unzufriedenheit, Stress, Burnout, arbeitsplatzbedingte (Rücken-) Schmerzen, Konflikte mit Vorgesetzten und Kolleg/innen, Mobbing usw.
So ist laut dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) die Zufriedenheit mit der Arbeit zwischen 1984 und 2010 von 7,70 auf 6,76 zurückgegangen.[2] Rund 9% der Befragten wählten 2010 auf der elfstufigen Zufriedenheitsskala die vier untersten Werte.[3] Nach der Repräsentativerhebung 2011 zum DGB-Index Gute Arbeit fühlt sich jeder zweite Beschäftigte bei der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt; 63% beklagen die zunehmende Arbeitsintensivierung und Leistungsverdichtung, 37% denken auch zu Hause an Schwierigkeiten bei der Arbeit und 20% leisten 10 und mehr Überstunden pro Woche.[4] Jeder fünfte Beschäftigte leidet laut der Repräsentativerhebung 2009 fast täglich unter Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen sowie jeder Siebte fast täglich unter Erschöpfungszuständen.[5]
2. Zwischenruf zur Hochstilisierung der frühkindlichen Bildung
Von den Kritikern des Betreuungsgeldes wird der Eindruck erweckt, als wenn Kleinkinder besser in Kindertagesstätten als in Familien aufgehoben seien, da sie dort von gut qualifizierten Fachkräften erzogen und gebildet würden. Die Bundesländer haben in zum Teil Hunderte von Seiten umfassenden Bildungsplänen dargestellt, welche Kompetenzen Erzieher/innen bei den ihnen anvertrauten Kindern schulen und in welchen Bildungsbereichen sie Kenntnisse vermitteln sollen.
Ignoriert wird aber, dass die Qualität der frühkindlichen Bildung nur mittelmäßig ist. So erschienen Anfang 2012 die ersten Ergebnisse der repräsentativen „Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK).[6] Danach befinden sich jeweils über 80% der untersuchten außerfamiliären Betreuungsformen in der Zone mittlerer Qualität, weniger als 10% darüber und mehr als 10% (mit Ausnahme der Tagespflege) darunter. Bei den zusätzlich untersuchten Bildungsbereichen Literalität, Mathematik, Naturwissenschaften und interkulturelles Lernen liegen mehr als 50% der Kindergarten- und weit altersgemischten Gruppen im Bereich unzureichender Qualität.
All die von Bildungs- und Sozialpolitiker/innen in Fernsehauftritten, Reden und Pressemitteilungen groß herausgestellten Maßnahmen zur Verbesserung der frühkindlichen Bildung scheinen einfach verpufft zu sein: Ein Vergleich der Werte zur Qualität von Kindergärten in der NUBBEK-Studie mit solchen von Mitte der 1990er Jahre ergab, dass sich in gut 15 Jahren die pädagogische Prozessqualität nicht verändert hat. Und so gilt das erschreckende Ergebnis von damals noch heute – dass die Entwicklungsunterschiede bei Kindern, die auf die pädagogische Qualität im Kindergarten zurückgeführt werden können, im Extremfall einem Altersunterschied von einem Jahr entsprechen.[7]
Es ist somit höchste Zeit, dass endlich die pädagogische Qualität in frühkindlichen Betreuungssettings wirklich angehoben wird! Bund, Länder, Kommunen und freigemeinnützige Träger müssen gemeinsam die Rahmenbedingungen (z.B. Gruppengröße, Erzieherin-Kind-Schlüssel), die Qualifizierung der Fachkräfte und deren Fortbildung verbessern.
Stattdessen scheint man eher an Sparmodelle zu denken, um bis 2013 den Rechtsanspruch unter dreijähriger Kinder auf einen Betreuungsplatz gewährleisten zu können. So forderte am 28.04.2012 Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) von Ländern und Kommunen, auf übertriebene Bauvorschriften zu verzichten: „Selbst wenn eine Kita direkt neben einem öffentlichen Spielplatz liegt, braucht sie nach Vorschrift zusätzlich einen eigenen Spielplatz“, sagte sie der Saarbrücker Zeitung.[8] Ob sich die Ministerin schon einmal einen öffentlichen Spielplatz genauer angeschaut hat? Sollen Kleinkinder zwischen Dreck, Zigarettenkippen, Bierflaschen und vielleicht sogar Einmalspritzen spielen? Und wie ist es mit der Aufsichtspflicht, wenn sich zwei Fachkräfte mit 25 Kleinkindern auf einem nicht umzäunten öffentlichen Spielplatz aufhalten, auf dem auch noch andere Erwachsene und Kinder sind? Da können sie noch nicht einmal Fragen von Kindern beantworten, da sie sonst die anderen aus dem Auge verlieren würden!
3. Zwischenruf zum Ignorieren der Bildungsleistung von Familien
Den positiven bzw. negativen Auswirkungen von Qualitätsunterschieden bei Kindergärten auf die kindliche Entwicklung entsprechen in noch größerem Maße die Folgen des Aufwachsens in einer eher bildungsnahen oder einer eher bildungsfernen Familie. Egal ob man die PISA-, TIMMS-, NICHD-, NUBBEK- oder sonstige Studien betrachtet, immer findet man dasselbe Ergebnis: Entwicklung und Schullaufbahn eines Kindes werden in höherem Maße durch die Qualitätsunterschiede bei Familienmerkmalen als durch solche bei Kindertagesstätten und Schulen beeinflusst. Grob geschätzt ist der Einfluss der Familie etwa doppelt so groß wie derjenige von Bildungseinrichtungen.[9] Die Familie ist eine besondere Bildungsinstanz, deren Besonderheit in der Verknüpfung von Betreuung, Erziehung und Bildung mit Liebe, Zuneigung, Geborgenheit, Fürsorge, Kommunikation, Vorbildwirkung und vielen anderen Faktoren liegt.
Aus den vorausgegangenen Absätzen ergeben sich verschiedene Denkmodelle, zum Beispiel: Ein Kind, das in einer (sehr) bildungsnahen Familie aufwächst, profitiert höchstens von dem Besuch einer der knapp 10% qualitativ guten Kindertageseinrichtungen (vielleicht mit Ausnahme der Sozialentwicklung). Dasselbe gilt aber auch für ein Kind, das in einer von der pädagogischen Qualität eher durchschnittlichen Familie aufwächst, weil deren Einfluss größer ist als derjenige außerfamiliärer Betreuungsformen.
Somit profitiert nur ein Kind aus bildungsfernen Familien vom Besuch einer Kindertageseinrichtung mit mittlerer Qualität – und das auch nur begrenzt: Ein Beispiel hierfür ist die Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund, die nicht nur im Kita-Alltag erfolgt, sondern zusätzlich durch besondere Sprachförderprogramme. So ergab z.B. die Sprachstandserhebung der Berliner Kindertagesstätten von 2011, dass 4.600 Kinder (17%) des Geburtsjahrgangs 2006 einen Sprachförderbedarf hatten.[10] Die Hälfte von ihnen hatte mehr als zwei Jahre lang eine Kindertageseinrichtung besucht – und rund 700 sogar mehr als drei Jahre. Eine mehrjährige alltagsintegrierte Sprachförderung hat also Sprachdefizite nicht ausgeglichen. Dasselbe gilt weitgehend für Sprachförderprogramme in Kindertageseinrichtungen, an denen oft auch Lehrer/innen mitwirken. Nach Untersuchungen, die z.B. über entsprechende Programme in Hessen („Vorkurse Deutsch“), Baden-Württemberg („Sag‘ mal was“) und Brandenburg vorliegen, sind deren Effekte minimal.[11] Wie „normal“ und unkompliziert lernen Kinder hingegen das Sprechen in ihren Familien! Werden sie von ihren Eltern bilingual erzogen, beherrschen sie beim Eintritt in die Grundschule sogar zwei Sprachen...
Welche Konsequenzen müssten daraus gezogen werden? Erstens sollten die Leistungen bildungsnahe Familien öffentlich gemacht und gewürdigt werden. Zweitens benötigen bildungsferne Familien eine besondere Unterstützung zur Verbesserung der von ihnen geleisteten Erziehung und Bildung. Hier haben sich z.B. Elterntrainings – und für Familien mit Migrationshintergrund – Hausbesuchsprogramme wie „HIPPY“, „Opstapje“, „Rucksack“ oder „Griffbereit“ bewährt. Drittens brauchen Kinder aus bildungsschwachen Familien eine intensive Förderung in qualitativ guten Kindertageseinrichtungen.
Heißt das nun für Mütter in (bildungsnahen) Familien, „zurück an den Herd“, weil sie ihre Kinder besser fördern können als dies in außerfamiliären Betreuungssettings von mittelmäßiger pädagogischer Qualität der Fall ist? Nicht unbedingt! Es heißt vor allem, dass Eltern (Mütter und Väter!) nicht ihre Erziehungsverantwortung an Erzieher/innen delegieren dürfen, sondern die Erziehungs- und Bildungschancen im Familienalltag (besser) nutzen sollten. Das bedeutet nur begrenzt eine Ausweitung der „Qualitätszeit“ (der direkt dem Kind gewidmeten Zeit) – die sog. „informelle Bildung“ ergibt sich weitgehend aus dem Zusammenleben von Eltern und Kindern.[12]
4. Zwischenruf zur Belastung von Erzieher/innen und Lehrer/innen
Je mehr Eltern die Erziehungsverantwortung an Kindertageseinrichtungen und Schulen delegieren bzw. je schwächer die Sozialisationsleistungen und die informelle Bildung der Familien werden, umso größer werden die Belastungen von Erzieher/innen und Lehrer/innen. So klagen Fachkräfte, dass sie immer mehr Arbeitszeit für das Füttern und Wickeln von unter Dreijährigen benötigen und dass sie die Sauberkeitserziehung übernehmen, den Kindern das selbständige Ankleiden, das eigenständige Essen und die Tischsitten beibringen müssten. Laut dem DGB-Index Gute Arbeit erlebt inzwischen ein Drittel der Erzieher/innen die Arbeitsintensität sowie die emotionalen und die körperlichen Anforderungen als subjektiv belastend.[13]
Aber auch Lehrer/innen berichten von steigenden Belastungen. Beispielsweise waren 50% der Lehrkräfte bei einer 2012 veröffentlichten Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach der Meinung, dass das Unterrichten im Verlauf der letzten 5 bis 10 Jahre deutlich schwieriger geworden sei.[14] Dies „führen Lehrer zu insgesamt 42 Prozent auf das Verhalten ihrer Schüler zurück und kritisieren damit fehlende Disziplin, Respektlosigkeit und die Missachtung von Regeln ebenso wie ein geringes Konzentrationsvermögen, fehlende Motivation oder allgemeine Erziehungsdefizite“. Und 31% beklagen, dass sie immer häufiger Aufgaben übernehmen müssten, die eigentlich Sache des Elternhauses seien.
5. Zwischenruf zu psychischen Problemen von Kindern
Irgendetwas scheint schief zu laufen – und die Kinder als die schwächste Gruppe in unserer Gesellschaft leiden als erste: Beispielsweise hat nach einer 2012 veröffentlichten Untersuchung der Techniker Krankenkasse jedes vierte Kind bzw. jeder vierte Jugendliche in Bayern psychische Probleme – insgesamt 560.000 Personen.[15] Nach Auskunft der Eltern leiden 24% der Kinder unter Konzentrationsstörungen und 16% unter häufigen Kopfschmerzen; 12% sind oft ängstlich und unsicher, 10% häufig unausgeglichen und niedergedrückt; 7% haben ADHS (2010).[16] Laut der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin erhält bereits ein Drittel aller Kleinkinder professionelle Förder- und Therapiemaßnahmen.[17]
Psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten sind „Hilferufe“ von Kindern, die leider individualisiert werden und damit in unserer Gesellschaft unbeachtet bleiben. Wir sollten sie endlich ernst nehmen! Ob sie wohl für eine nachlassende Erziehungsleistung von Familien, die bloß mittelmäßige Qualität von Kindertageseinrichtungen und den hohen Leistungsdruck an Schulen[18] stehen?
Endnoten
- http://www.kindergartenpaedagogik.de/1650a.pdf
- http://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.391146.de/soepmonitor_person2010.pdf
- http://panel.gsoep.de/cgi-bin/dtc/quickinfo.pl?ZP0103
- http://www.dgb-index-gute-arbeit.de/jaehrliche_repraesentativerhebung/dgb-index_gute_arbeit_2011/data/arbeitshetze_arbeitsintensivierung_entgrenzung_-_ergebnisse_der_repraesentativumfrage_2011.pdf
- http://www.dgb-index-gute-arbeit.de/downloads/publikationen/data/diga_report_09.pdf
- http://www.nubbek.de/media/pdf/NUBBEK%20Broschuere.pdf
- Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Weinheim, Basel: Beltz 1998
- http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article106235756/Schroeder-will-Bau-von-Kitas-vereinfachen.html
- Textor, M.R.: Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in der Schule. Gründe, Ziele, Formen. Norderstedt: Books on Demand 2009, S. 12-14 10.
- http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2012-02/berlin-kita-sprachfoerderung
- http://www.zeit.de/2010/43/B-Sprachtests
- vgl. Textor, M.R.: Zukunftsorientierte Pädagogik: Erziehen und Bilden für die Welt von morgen. Wie Kinder in Familie, Kita und Schule zukunftsfähig werden. Norderstedt: Books on Demand 2012, S. 73-85
- http://www.gew.de/Binaries/Binary40336/Brosch%C3%BCre_DGB-index_Arbeitspapier_Erzieherinnen-kurz%20%C3%BCbera.
- http://www.vodafone-stiftung.de/presseinfomodul/detail/168.html
- http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.studie-fuer-bayern-jedes-vierte-kind-ist-psychisch-krank.93bd14a4-106a-4373-8b61-0658e0f424a7.html
- http://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/220362/Datei/5230/TK-Infografik-Kindsein-ist-kein-Kinderspiel.jpg
- http://www.dgspj.de/media/Presse-KampagneTherapie.pdf
- Bei der Längsschnittstudie Aida beklagten fast 85% der befragten über 3.000 Berliner Jugendlichen der Klassen 7, 8 und 9 den großen Leistungsdruck (http://www.tagesspiegel.de/wissen/neue-studie-was-ist-das-schlimmste-an-der-schule/6019988.html).