Individualisierung der Bildungsprozesse in der Schule

Martin R. Textor

 

Eigentlich weiß es ja jeder von uns: Jedes Kind ist ein Individuum, eine einzigartige Person. Kein anderes Kind ist ihm gleich; kein anderes Kind existiert in genau derselben Familien- und Lebenssituation; kein anderes Kind erlebt dieselbe Kindheit. Aber obwohl wir dies wissen, machen wir uns nur selten klar, wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern, ihren Kindheiten und Lebenssituationen sind. So liegen Welten zwischen einem Kind aus einer zugewanderten Familie, aus einer sozial schwachen Familie, aus einer Arbeiterfamilie, aus einer Bauernfamilie, aus einer bürgerlichen Familie oder aus einer Familie der „oberen 10.000“, zwischen einem Land-, Stadt- oder Großstadtkind. Und es liegen Welten zwischen einem intellektuell hoch begabten, einem in anderen Bereichen begabtes, einem durchschnittlich intelligenten und einem leicht lernbehinderten Kind, zwischen einem überwiegend visuell, auditiv oder kinästhetisch lernenden Kind, zwischen einem sich geliebt fühlenden und an seine Eltern gebundenen, einem sich als ungeliebt erlebenden, einem vernachlässigten und einem sexuell missbrauchen Kind, zwischen einem in einen Freundeskreis eingebundenen, einem einsamen und einem gemobbten Kind, zwischen einem körperlich gesunden und sportlichen, einem fettleibigen, einem ungeschickten und einem behinderten Kind, zwischen einem psychisch gesunden und glücklichen, einem depressiven, einem verhaltensauffälligen und einem ADHS-Kind. Und diese Auflistung ließe sich noch endlos fortsetzen...

Mit ganz wenigen Ausnahmen besuchen alle diese so unterschiedlichen Kinder dieselben Grundschulen. Lehrer/innen werden somit mit einer nahezu unvorstellbaren Bandbreite von Persönlichkeitsstrukturen, Begabungen, Lernstilen, psychischen Prozessen und Verhaltensmustern konfrontiert, verbunden mit ganz individuellen Bedürfnissen und Erwartungen. Und all diese so unterschiedlichen Kinder sollen die Lehrer/innen nach demselben Grundschullehrplan bilden!

Vor vielen Jahren war die Lösung noch einfach: In der Grundschule wurde allen Kindern derselbe Lehrstoff im Frontalunterricht vermittelt. Heute geht dies nicht mehr: In der ersten Grundschulklasse ist die Altersspanne größer geworden, seitdem immer mehr fünfjährige Kinder eingeschult werden. Zudem ist der (politische) Druck größer geworden, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und solche aus sozial schwachen Familien intensiv zu fördern – bei immer weiter zurückgehenden Kinderzahlen benötigt die Wirtschaft bald jeden Heranwachsenden als Arbeitskraft, und deshalb kann sich das Bildungssystem keine Schulabgänger ohne Abschluss mehr leisten...

Die Diskrepanz zwischen den gestiegenen Anforderungen hinsichtlich der Bildung von Grundschulkindern, die sich z.B. in besonderen Förderprogrammen oder zentralen Lernstandserhebungen niederschlagen, den immer größer werdenden Unterschieden zwischen den einzelnen Kindern sowie der zunehmenden Altersspannbreite in der Klasse können Lehrer/innen nur durch die Individualisierung von Bildungsprozessen bewältigen. Das bedeutet:

  • Jedes Kind muss genau beobachtet werden, um seinen Entwicklungsstand, seine kognitiven und sonstigen Kompetenzen, seine Begabungen, sein Wissen und seine besonderen Bedürfnisse zu erfassen.
  • Frontalunterricht wird zunehmend ersetzt durch Paar- und Gruppenarbeit.
  • Dem einzelnen Kind werden im Rahmen der Projektarbeit, des offenen Unterrichts oder des Stationenlernens mehr Freiräume gegeben, sodass sie die Lerninhalte mitbestimmen bzw. ihr Lernen stärker selbst planen und realisieren können. Die Lehrkraft nimmt hier eher eine beobachtende und helfende Rolle ein.
  • Dem einzelnen Kind wird im Rahmen der Freiarbeit die Möglichkeit zur Selbstbildung geboten: Es kann sich mehr oder minder selbstbestimmt und selbsttätig mit den es interessierenden Themen, Materialien und Aktivitäten befassen. Hier sind ganz individualisierte Interaktionen zwischen Kind und Lehrkraft möglich, bei denen Letztere das Nachdenken und Lernen stimuliert.
  • Dem einzelnen Kind wird im Rahmen von Kleingruppenarbeit die Möglichkeit zum ko-konstruktiven Lernen geboten: In der gemeinsamen Beschäftigung bzw. im Gespräch miteinander erarbeiten sich Kinder selbständig Wissen, lernen voneinander und erweitern ihre interpersonalen Kompetenzen.

Eine Individualisierung von Bildungsprozessen ermöglicht es auch, bei Bedarf einzelne Kinder ganz intensiv zu fördern. Beispielsweise können bei Kindern mit Migrationshintergrund gezielt die sprachlichen Kompetenzen verbessert werden. Hier wird deutlich, dass eine Individualisierung von Bildungsprozessen umso leichter möglich ist, je kleiner die Klasse ist – dann bleiben weniger Kinder übrig, wenn die Lehrer/innen mit einer Kleingruppe oder mit einzelnen Kindern arbeiten. Je kleiner die Klasse ist, umso intensiver kann auch jedes einzelne Kind beobachtet und seine Entwicklung dokumentiert werden. Jedoch befanden sich 2006 im Durchschnitt 22 Kinder in Grundschulklassen (Kultusministerkonferenz 2007) – eine viel zu hohe Zahl, wobei man noch bedenken muss, dass sie vielerorts überschritten wird.

Noch schwieriger ist es, eine Individualisierung von Bildungsprozessen zu realisieren, wenn sich in einer Klasse Kinder mit besonderen Bedürfnissen ballen, wie dies in sozialen Brennpunkten der Fall ist. Ähnliches gilt, wenn die Klasse eine große Altersspanne aufweist. Meint es die Bildungspolitik mit der Individualisierung von Bildungsprozessen ernst, kommt sie also nicht um eine Verbesserung der Rahmenbedingungen herum – also z.B. um eine Reduzierung der Klassengröße und eine zumindest zeitweise erfolgende Ausstattung von Grundschulklassen mit einer zweiten Lehrkraft.

Quelle

Aus: Grundschulzeitschrift Nr. 222/223, S. 26

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Literatur

Kultusministerkonferenz (2007): Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 1997 bis 2006. Dokumentation Nr. 184. http://www.kmk.org/statist/Dok184.pdf