Unser Schulkind ist auffällig - Ursachen und Hilfsangebote
Ingeborg Becker-Textor und Martin R. Textor
Immer mehr Schulkinder leiden unter Verhaltensstörungen oder Schulangst. Sicherlich kennen Sie in Ihrem Bekanntenkreis Kinder, auf die dieses zutrifft - vielleicht gehören Sie auch selbst zu den 20 bis 25% aller Eltern, deren Kinder sich auffällig verhalten. In diesem Artikel wollen wir beschreiben, wo die Ursachen für ein derartiges Verhalten liegen können und welche Hilfsmaßnahmen möglich sind.
Das Leben eines jeden Kindes bzw. Jugendlichen wird durch drei Kräfte geprägt: Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe. Über ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung muss an dieser Stelle sicherlich nichts gesagt werden; weniger bewusst ist uns aber, wie eng sie miteinander verknüpft sind: So bestimmen der in der Familie gelernte Sprach- und Denkstil, die vermittelten Werte und Einstellungen sowie die geförderten Interessen und Lebensziele zu einem großen Teil die Schulkarriere eines Kindes. Die in ihr erworbenen motorischen und sozialen Fertigketten sind hingegen von großer Bedeutung für die Eingliederung des Kindes in die Gleichaltrigengruppe und die Klassengemeinschaft. Leidet ein Kind z.B. unter Familienkonflikten, der Zuweisung nicht altersgemäßer Rollen oder der Trennung seiner Eltern, so wirkt sich dieses auf sein Verhalten in der Schule und in der Gleichaltrigengruppe aus. Genauso gut bestimmen beispielsweise schulische Misserfolge, die negative Haltung eines Lehrers oder die durch Mitschüler erfahrene Ablehnung das Verhalten eines Kindes in der Familie sowie die Reaktionen seiner Eltern und Geschwister mit. Die Gleichaltrigengruppe kann ein Kind seiner Familie entfremden und z.B. mit Drogen vertraut machen oder ihnen eine negative Haltung gegenüber der Schule und dem Lernen einflößen.
Die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten können in der Familie, der Schule oder in der Gleichaltrigengruppe liegen, aber auch im Kind selbst. In der Regel gibt es mehrere Ursachen. Wir neigen zu leicht dazu, eine Ursache für die Verhaltensauffälligkeit eines Kindes zu betonen - und diese möglichst weit weg von uns selbst zu suchen (die Eltern bei dem Lehrer, der Lehrer in den Familienverhältnissen des Kindes usw.). Es ist von großer Bedeutung, dass Schule, Familie und Gleichaltrigengruppe so eng miteinander verknüpft sind: Die Reaktionen der Eltern können negative Einflüsse aus Schule oder Klassengemeinschaft verstärken oder abschwächen, die Gleichaltrigengruppe kann ein hilfsbedürftiges Kind auffangen oder zum Außenseiter machen, der Lehrer kann Eltern auf Erziehungsfehler aufmerksam machen oder die Familienprobleme und ihre Auswirkungen auf den Schüler ignorieren. Es ist wichtig, sich immer erst ein Bild von der Gesamtsituation eines verhaltensauffälligen Kindes zu machen und zu prüfen, inwieweit Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe bei der Hilfe einbezogen werden müssen.
Schulische Verhaltensstörungen
Ursachen für Verhaltensstörungen in der Schule können zum Teil im Kind selbst liegen. Auffällige Kinder leiden oft unter Antriebsschwäche oder Überaktivität, seelischen Konflikten oder Angst. Vielfach sind sie über- oder unterfordert. Kinder entwickeln häufig Verhaltensauffälligkeiten, weil ihr Bedürfnis nach Liebe nicht befriedigt und ihr Wunsch, Zuneigung zeigen zu dürfen, nicht erfüllt wird. Oft sind sie aggressiv oder ziehen sich zurück, weil sie von anderen Menschen nicht genug Anerkennung erfahren, einsam sind, unter negativen Selbstwertgefühlen leiden oder mangelnde Fähigkeiten überspielen wollen. Häufig liegt Verhaltensstörungen auch ein Streben nach Aufmerksamkeit, Macht oder Rache zugrunde.
Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten finden sich auch in der Familie. Stammen Kinder beispielsweise aus einem anderen soziokulturellen Milieu, also z.B. aus Randgruppen, Sekten oder anderen Nationen, erfahren sie vielfach in der Schule, dass ihre Werte, Normen und Erwartungen nicht anerkannt werden. Dann sind sie verunsichert oder stoßen auf Ablehnung. Ähnliches gilt für den Fall, dass ihre Eltern einen anderen Erziehungsstil praktizieren als den unter Lehrern üblichen. Manche Eltern erleben eine Art stellvertretende Befriedigung, wenn ihre Kinder sich gegen Autoritäten auflehnen oder wie sie die Schule ablehnen. Praktizieren die Eltern hingegen einen autoritären Erziehungsstil, mögen sich die Kinder in der Schule verängstigt und extrem schüchtern verhalten oder ihre unterdrückten Energien ausagieren.
Oft führen auch unbewältigte Familienkrisen zu Verhaltensauffälligkeiten in der Schule. Das Kind drückt auf diese Weise seine Probleme und inneren Konflikte aus. Ähnliches gilt für den Fall, dass sich die Eltern häufig streiten, sich getrennt haben oder vor kurzem geschieden wurden. Nicht selten tragen Kinder dann ihre Ängste, Ohnmachtsgefühle, Trauer, Verzweiflung oder Wut in die Schule hinein. Alleinerziehende Mütter oder Väter haben oft nicht genügend Zeit für ihre Kinder, überfordern sie, indem sie ihnen eine Ersatzpartnerrolle zuweisen, oder behandeln sie wie Erwachsene, was ebenfalls zu Verhaltensstörungen führen kann. Bei häufigen Partnerkonflikten werden Kinder zudem oft als Sündenböcke, Vermittler bzw. Verbündete missbraucht. Manche versuchen auch, durch auffällige Verhaltensweisen die Eltern von ihren Auseinandersetzungen abzulenken und auf diese Weise ein Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern.
Ursachen für Verhaltensstörungen können aber auch im Schulsystem liegen. Schulen sind oft zu groß, wirken anonym oder erschweren die Ausbildung und Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen, weil Klassenverbände auseinandergerissen oder bei Einführung des Kurssystems aufgelöst werden. Da insbesondere in höheren Klassen Lehrer meist nur wenige Stunden pro Woche in derselben Klasse unterrichten und diese vielfach am Ende des Schuljahres abgeben, nehmen sie zu wenig Anteil am Leben ihrer Schüler und entwickeln keine intensiven personalen Beziehungen. Die meisten konzentrieren sich auf den Unterricht, übernehmen zu wenig erzieherische Verantwortung und überlassen die Kinder hinsichtlich ihrer seelischen und persönlichen Entwicklung weitgehend sich selbst. Viele Lehrer sprechen selten privat mit ihren Schülern, vertreten ihre eigenen Werte nur in Einzelfällen, greifen nur ab und zu in die Klassenstruktur ein. Da Lehrer sich häufig als Fachwissenschaftler, Didaktiker oder Unterrichtstechnologen sehen, beschränkt sich das von ihnen angeregte und gesteuerte Lernen oft zu sehr auf Wissensaufnahme und -verbreitung, also auf geistige Prozesse. Die soziale, gefühlsmäßige und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler kommt leicht zu kurz.
Verhaltensstörungen werden jedoch nicht nur durch Charakteristika des Schulsystems und die negative Haltung vieler Lehrer gegenüber ihrem erzieherischen Auftrag verursacht, sondern auch durch deren fehlerhaftes Verhalten. So werden einzelne Schüler überfordert, müssen einen "uninteressanten" und mangelhaft vorbereiteten Unterricht erleben und stehen Lehrern gegenüber, die in negativer Wese gegenüber Kindern reagieren, Ruhe und Ordnung nicht aufrechterhalten können oder einen nicht akzeptablen Unterrichtsstil (laissez-faire, autoritär) anwenden. Oft reagieren sie gerade problematischen Kindern gegenüber ungeschickt, da sie trotz des hohen Prozentsatzes auffälliger Schüler nicht genügend in Beobachtungsmethoden, diagnostischer Abklärung und Techniken der Verhaltensveränderung ausgebildet wurden. Wenn sie die Kinder nicht verstehen, verstärken sie oft noch deren Verhaltensstörungen. Nur selten besprechen sie Probleme mit Schülern, Kollegen, Beratungslehrern oder Schulpsychologen, da sie nicht als unfähig oder hilflos erscheinen wollen. Sie sind nicht bereit, ihre Unterrichts- oder Erziehungstechniken zu ändern und können dementsprechend den auffälligen Kindern nicht helfen.
Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten liegen aber auch in der Gleichaltrigengruppe. So versucht ein Kind, die Aufmerksamkeit, Achtung und Bewunderung seiner Klassenkameraden zu gewinnen und seine Machtposition zu verbessern, indem es fortwährend den Lehrer herausfordert oder aggressiv ist. Wird es von anderen Schülern nicht beachtet, unterdrückt, verächtlich behandelt oder als "schwarzes Schaf" dargestellt, so führt dieses Verhalten zu Verängstigung, Einschüchterung oder Rückzug. Außerschulische Gleichaltrigengruppen fördern oft ein aggressives Verhalten, schüren eine negative oder Protesthaltung gegenüber Lehrern und anderen Erwachsenen (extremistische Gruppierungen, Punker, Vereinnahmung von Kindern und Jugendlichen, z.B. durch Sekten, Förderung einer genussorientierten Lebenseinstellung, Heranführung an Drogen).
Ursachen von Verhaltensstörungen können aber auch außerhalb der genannten drei Systeme liegen. Beispielsweise kann ein Arzt (oder anderer Fachmann) das nur "ungezogene" Verhalten eines Kindes als "hyperaktiv" definieren und eine medikamentöse Behandlung einleiten. Eltern und Lehrer reagieren dann auf dieses Kind entsprechend der genannten Etikettierung. Es werden die eigentlichen Ursachen des kindlichen Verhaltens nicht erkannt, die richtigen Erziehungsmaßnahmen nicht eingeleitet, dem Kind eine krankheitsbedingte Karriere zugewiesen.
Schulangst
Kinder, die unter ausgeprägter Schulangst leiden, sind zumeist übermäßig gewissenhaft und haben unrealistische Leistungsziele. So versuchen sie oft, mit Hilfe auffälliger Verhaltensweisen der Schule und den Klassenkameraden zu entgehen, da diese ihre übersteigerten Selbstwert- und Überlegenheitsgefühle bedrohen. Vielfach wollen sie auch aufgrund starker Trennungsängste daheim bleiben. Letztere treten vor allem nach der Einschulung oder den Ferien auf.
Zur Entstehung von Schulängsten kommt es oft auch nach Familienkrisen, Todesfällen oder Krankenhauseinweisung eines Familienmitgliedes. Wenn ein Elternteil krank oder schwermütig ist, wird dem Kind häufig unbewusst eine Pflegerrolle zugewiesen. Es fühlt sich verantwortlich und versucht, daheim bleiben zu können. Hat ein Elternteil Angst vor dem anderen (z.B. vor dessen Brutalität) oder vor einer möglichen Trennung oder Scheidung, will das Kino oft unbewusst die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich und seine Symptome lenken und so die Familie zusammenhalten. Es will daheim bleiben, um als Vermittler tätig zu werden bzw. ein Elternteil schützen zu können. Oft ist auch die Mutter von ihrem Ehemann enttäuscht und sieht im Kind einen Ersatzpartner. Hierin mag auch eine Ursache für die zumeist enge und "verschmelzende" Beziehung zwischen Mutter und Kind liegen. Diese ist dann überbehütend und verwöhnend, verhindert aufgrund von Trennungsängsten unbewusst die Ablösung und Selbstfindung des Kindes und hält es abhängig. Der Vater verbringt meist wenig Zeit daheim, steht der Familie abseits und ist relativ passiv. So kann er die engen Bande zwischen Mutter und Kind nicht schwächen oder gar aufbrechen.
Der Schulangst liegt nur selten eine begründete oder unbegründete Angst vor bestimmten Lehrern oder die Ablehnung gewisser Aspekte der Schule zugrunde. Häufiger sollen die Symptome die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich ziehen, insbesondere wenn das Kind daheim im Mittelpunkt des Familienlebens steht und nun in der Schule eine ähnliche Position beansprucht. Hier wirkt sich besonders negativ aus, wenn (Einzel-) Kinder nicht den Kindergarten besucht und nicht die Einordnung in eine Gruppe gelernt haben. Seltenere Ursachen von Schulängsten können in der unbegründeten oder realistischen Furcht der Kinder vor Mobbing durch Schulkameraden liegen.
Aufgaben des Lehrers
Beim Auftreten schulischer Verhaltensstörungen ist es empfehlenswert, dass der Lehrer zuerst das Verhalten des Schülers (und die eigenen Reaktionen) über einen längeren Zeitraum genau beobachtet und täglich am Ende seiner Unterrichtsstunden auf eine nichtwertende Weise protokolliert (Verlaufsprotokoll). Es ist sinnvoll, das Verhalten der Mitschüler zu erfassen und z.B. ein Soziogramm zu erstellen. Auf diese Weise kann der Lehrer erkennen, von welcher Art die Verhaltensstörung ist und ob die Ursachen vermutlich in der Gleichaltrigengruppe (Probleme des Kindes im Klassenverband oder mit Gleichaltrigen außerhalb der Schule), in der Familie oder im Schulalltag liegen. Im letztgenannten Fall sollte der Lehrer sein Verhalten gegenüber dem auffälligen Kind und seinen Unterrichtsstil hinterfragen bzw. reflektieren. Stellt er fest, dass er z.B. unerwünschte Reaktionen verstärkt, indem er sie mit Aufmerksamkeit belohnt, kann er beispielsweise unter Verwendung einfacher und in vielen leicht erhältlichen Büchern beschriebener verhaltenstherapeutischer Techniken (ignorieren unerwünschter, positives Verstärken erwünschter Reaktionen; Verhaltensausformung usw.) diese Verhaltensweisen ersetzen.
Eine der wohl wichtigsten dem Lehrer zur Verfügung stehenden Maßnahmen ist das erzieherische Gespräch mit dem auffälligen Kind. Zum einen dient es dem Erkennen der Gründe, welche die unerwünschten Verhaltensweisen hervorrufen und aufrechterhalten, wobei das Kind diese oft selbst benennt. So wurde es z.B. durch Misserfolgserlebnisse demotiviert, von den Klassenkameraden abgelehnt, mit begabteren Geschwistern verglichen oder durch einen daheim fortwährend laufenden Fernseher vom Lernen abgelenkt. Zum anderen kann der Lehrer feststellen, auf welche Weise er dem Schüler helfen bzw. näherkommen kann. Vielfach führt schon das Zeigen von Verständnis, Wärme und Zuneigung zu einer Verringerung der Symptome. Wenn sich der Lehrer auch nach einem derartigen Gespräch noch nicht über die Ursachen der Verhaltens- bzw. Lernstörungen im klaren ist, kann er einen Kollegen bitten, an seinem Unterricht teilzunehmen und das Kind sowie dessen Beziehungen zu ihm und den Klassenkameraden zu beobachten.
In vielen Fällen wird der Lehrer erkennen, dass seine Bemühungen bei Einbeziehung der Eltern erfolgversprechender sind. So kann er sie zu einem Gespräch in die Schule bitten und mit ihnen gemeinsam das Verhalten des Kindes besprechen, nach den Ursachen der Auffälligkeiten suchen und einen Handlungsplan entwickeln. Hierbei ist es wichtig, ein Klima des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit zu schaffen. So sollten z.B. "Machtkämpfe" hinsichtlich der Problemdefinition oder die Suche nach dem für die Verhaltensauffälligkeiten "Schuldigen" vermieden werden.
Andere Maßnahmen
Wenn die Symptome des Schülers eine wichtige Funktion innerhalb der Familie haben, durch diese hervorgerufen und aufrechterhalten werden, sind den Bemühungen des Lehrers Grenzen gesetzt. Er wird auch dann wenig Erfolg haben, wenn beispielsweise die schulischen Lern- und Verhaltensstörungen sehr stark ausgeprägt sind, das Kind unter seelischen Konflikten leidet, in seiner Familie krankmachende Kräfte wirken oder diese zu einer Zusammenarbeit nicht bereit ist. Häufig verweist der Lehrer dann auffällige Schüler und deren Eltern an Beratungslehrer oder Schulpsychologen. Der Kontakt mit Einrichtungen der Jugendhilfe wird vielfach gescheut; zudem sind viele Lehrer nur mangelhaft über deren Angebote (Beratung, Erziehungsbeistand, Tagespflege, sozialpädagogische Familienhilfe, Sondertagesstätten, Elterntraining, Bildungshilfe usw.) informiert. Deshalb muss die Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe unbedingt verbessert werden, da nur so alle für verhaltensauffällige Kinder und ihre Eltern geeigneten Hilfsangebote erschlossen werden können.
Ziel der Fachleute muss sein, sowohl dem Kind als auch seinen Eltern und dem Lehrer zu helfen. So werden sie Kind, Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe diagnostisch untersuchen und in ihren Behandlungsplan einbeziehen. In manchen Fällen arbeiten sie mit dem Kind alleine. Sie versuchen zuerst, eine gute Beziehung zu ihm aufzubauen und sein Vertrauen zu gewinnen, indem sie Verständnis, Echtheit, Respekt, Wärme und Zuneigung zeigen. Dann bemühen sie sich, eine Veränderung seines Verhaltens zu bewirken, sein Selbstbild zu verbessern und seine Fertigkeiten zu vermehren. So lassen sich z.B. mit Hilfe spieltherapeutischer oder gesprächstherapeutischer Techniken seelische Konflikte, Trennungsängste, Traumata und negative Erfahrungen aufarbeiten oder mit verhaltenstherapeutischen Methoden unerwünschte Verhaltensweisen abbauen und erwünschte anbahnen.
Insbesondere wenn Kindern bzw. Jugendlichen mit schulischen Verhaltensstörungen auch soziale Fertigkeiten fehlen, ist es sinnvoll, sie in (therapeutische) Gruppen einzugliedern. Wenn die anderen Gruppenmitglieder unter vergleichbaren Problemen leiden, können sie ähnliche Erfahrungen austauschen, füreinander Verständnis zeigen und einander durch Rat und Tat beistehen. Der Gruppenleiter (Sozialpädagoge, Therapeut, Schulpsychologe usw.) hilft ihnen, persönliche Anliegen und Gefühle zu diskutieren, sich selbst und andere besser zu verstehen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und die eigenen Probleme zu lösen. Zugleich erlernen Kinder und Jugendliche soziale Fertigkeiten. Ihr Selbstbild wird positiver, ihr Selbstvertrauen nimmt zu.
In vielen Fällen ist auch eine Familienberatung angezeigt. Anfangs stehen die Verhaltensauffälligkeiten des jeweiligen Kindes im Mittelpunkt des Gespräches. Jedoch wird sehr schnell auf Familienkrisen, Partnerkonflikte, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen, Erziehungsfehler usw. übergeleitet. So kann ein umfassendes diagnostisches Bild von der Familie gewonnen werden. Dann wird mit Hilfe der in den letzten 30 Jahren entwickelten familientherapeutischen Methoden versucht, die Familienprobleme und die in der Familie liegenden Ursachen von Verhaltensstörungen zu beheben. Häufig ist es sinnvoll, wenn Sitzungen gemeinsam mit den Familienmitgliedern und den betroffenen Lehrern durchgeführt werden. Hier muß zunächst eine freundliche und vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen werden, die ein gegenseitiges Anklagen und Schuldzuschreiben verhindert. Dann können die Verhaltensweisen des Kindes in Familie und Schule diskutiert werden, wobei oft die unterschiedlichen Perspektiven von Eltern und Lehren offensichtlich werden. Sind alle zu einer Zusammenarbeit bereit, kann ein gemeinsamer Handlungsplan entwickelt werden.
Für Eingriffe innerhalb von Gleichaltrigengruppen stehen erst wenige Techniken zur Verfügung. Hat ein Kind/Jugendlicher aufgrund fehlender sozialer Fertigkeiten keine Freunde, so können ihm diese Verhaltensweisen durch verhaltenstherapeutische Techniken wie Modelllernen, im Rollenspiel oder in therapeutischen Gruppen vermittelt werden. Wenn es ihm an Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen mangelt, so kann ein "Durchsetzungstraining" begonnen werden. Wird der Jugendliche aufgrund nicht altersgemäßer oder unmodischer Kleidung lächerlich gemacht, ist ein diesbezügliches Gespräch mit den Eltern sinnvoll. Wenn diese die Freunde ihres Kindes unbegründet ablehnen, sollte ein gemeinsames Treffen zwischen Familie und Gleichaltrigengruppe vereinbart werden, bei dem der Berater Vorurteile abbaut, Verständnis weckt, die Selbstfindung des Kindes fördert und dessen Entscheidungsfreiheit betont. In diesem Zusammenhang lässt sich auch gut über den Generationenkonflikt, unterschiedliche Werte und die Ablösungsproblematik sprechen.
Kommt ein Jugendlicher in einen falschen Freundeskreis (Drogenszene, Rockergruppe, Jugendreligionen usw.), können mit ihm seine Motive und die Konsequenzen seines Verhaltens erörtert werden. Wenn er bereit ist, sich aus diesen Gruppen zu lösen, können ihn die Eltern z.B. dadurch unterstützen, dass sie sogenannte Freunde bei Anrufen "abwimmeln". Gleichzeitig kann der Sozialarbeiter, Berater oder Schulpsychologe ihm helfen, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, indem er ihn z.B. auf Ferienfreizeiten, in Jugendzentren, in Sportvereine oder ähnliche Veranstaltungen vermittelt. Trifft sich ein Jugendlicher häufig mit seinen gleichaltrigen Freunden in Einrichtungen kommunaler oder freigemeinnütziger Träger, in denen Sozialarbeiter tätig sind, kann mit diesen Kontakt aufgenommen und können geeignete sozialpädagogische Maßnahmen vereinbart werden.
Hat ein auffälliges Kind große Probleme mit seinen Mitschülern, so können auch wöchentliche Treffen in der Klasse durchgeführt werden. Dabei fördern die Berater ein offenes Gespräch zwischen den Schülern und bitten sie, dem Problemkind bei der Identifikation unangemessener Verhaltensweisen, deren Ursachen und der zugrunde liegenden Motive zu helfen, wobei sie auch eigene Erklärungsversuche darlegen. Auf diese Weise entwickeln die Kinder Verständnis für den auffälligen Schüler und gehen von sich aus auf ihn zu, lassen ihn z.B. an Spielen teilnehmen oder unterstützen ihn. Gleichzeitig wirken die Berater taktvoll auf Konflikte zwischen den Schülern sowie auf solche zwischen ihnen und dem Lehrer ein. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass Außenstehende in Deutschland wohl nur in Ausnahmefällen die Erlaubnis der Schulverwaltung zur Durchführung der letztgenannten Maßnahmen erhalten werden.
Ursachen schulischer Verhaltensauffälligkeiten können im Kind, in seiner Familie, in der Schule oder der Gleichaltrigengruppe liegen. Zumeist lassen sich mehrere Ursachen feststellen. Dementsprechend genügen in der Regel erzieherische oder therapeutische Maßnahmen nicht, die sich nur auf das verhaltensauffällige Kind ausrichten. Vielmehr sind Familie, Schule und/oder Gleichaltrigengruppe auf eine der beschriebenen oder eine andere Weise in die Maßnahmen einzubeziehen. Dabei sind Eltern und Lehrer oft auf die Unterstützung von Schulpsychologen oder Mitarbeitern aus dem Jugendhilfebereich angewiesen.
Quelle
Aus: Elternforum 1990, 22 (2), S. 16-19
Literatur
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