Ausbau von Vorschulen versus Stärkung der Bildungsfunktion von Familien

Martin R. Textor

 

Dieser Tage wurde vom Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005) der Ausbau der Kinderbetreuungsangebote für Unter-Dreijährige, die Einführung einer Vorschulpflicht zunächst ab vier und später ab drei Jahren sowie die Umwandlung von Kindergärten in Vorschulen gefordert. Die Angebote sollen für Eltern beitragsfrei werden; die Kosten sollen von Bund und Ländern übernommen werden. Als Methode zur zentralen Finanzierung und zur Steigerung des Wettbewerbs zwischen Kindertageseinrichtungen werden "Bildungschecks" empfohlen. Schließlich soll die Qualität der Kinderbetreuung gesteigert werden.

Es ist selbstverständlich zu begrüßen, dass sich der Managerkreis mit Fragen der Frühpädagogik beschäftigt - schließlich tun dies seit einigen Jahren auch Unternehmen wie McKinsey und Microsoft bzw. die Stiftungen von Bertelsmann und Deutscher Telekom. Problematisieren möchte ich aber an dieser Stelle die vom Managerkreis geäußerte Vorstellung, Kindertageseinrichtungen könnten Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen Kindern auf tolerable Unterschiede schrumpfen lassen und damit Chancengleichheit herstellen. So wird als Beispiel für die Bildungsunterschiede angeführt, dass ein Kind in einer Mittelschichtfamilie 2.100 Worte pro Stunde, in einer Arbeiterfamilie 1.200 Worte und bei Sozialhilfeempfängern 600 Worte hört. Wie viele Worte hört ein Kind wohl pro Stunde in einer Kindergartengruppe mit bis zu 28 Kindern? Wie viel dieser Kommunikation erfolgt auf dem Niveau von Drei- bis Sechsjährigen, und wie viel auf einem höheren, die Entwicklung stärker anregenden Niveau? Wie viele Worte richtet wohl eine Erzieherin in einer Stunde individuell an ein Kind?

Auch die Einführung von Unterrichtsstunden in Vorschulen dürfte hieran wenig ändern. Zum einen können Drei- und Vierjährige nur unter großer Mühe kurze Zeit still sitzen und der Erzieherin zuhören; ein Großteil der Kommunikation wird somit disziplinierender Art sein. Zum anderen zeigt die Erfahrung mit Grundschulen, dass dort Unterricht zu einer Vergrößerung von Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen Kindern führt. Der Salzburger Professor Krumm (1995) fasste relevante Forschungsergebnisse wie folgt zusammen: "Die Differenzen in den kognitiven oder affektiven Lernvoraussetzungen zu Beginn der ersten Klasse werden im Verlauf der Schulzeit nicht kleiner, sondern größer" (S. 8). Die "Leistungsschere" zwischen den Schüler/innen öffnet sich mit der Zahl der Schuljahre also immer mehr: Im Jugendalter sind die Unterschiede im Wissen und Können zwischen Gymnasiast/innen und Hauptschüler/innen bereits sehr stark ausgeprägt.

Obwohl den Grundschullehrer/innen - und der Bildungspolitik - seit 50 Jahren bekannt ist, dass Unterschichtkinder und Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt sind, gelang es dem Schulsystem bisher nicht, die Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen ihnen und den Mittelschichtkindern zu reduzieren. Und nun sollen dies Erzieher/innen leisten, die noch nicht einmal ein Studium absolviert haben und rund 25 Kinder zu betreuen haben? Die bei Ganztagsbetreuung bis zu acht Stunden Gruppendienst haben und kaum noch Verfügungszeit zur Vorbereitung von Bildungsangeboten, für Fallbesprechungen und Elternarbeit haben? Die mit einer Zweitkraft zusammenarbeiten, die z.B. in Nordrhein-Westfalen überhaupt keine pädagogische Qualifikation haben muss? Die zunehmend ein- oder zweijährige Kinder in ihrer Gruppe haben, also entweder Bildungsangebote finden müssen, die fünf Altersstufen ansprechen? Oder die sich bei weiter Altersmischung zeitweise nur mit einigen, in etwa gleichaltrigen Kindern beschäftigen und die anderen sich selbst, d.h. dem Freispiel, überlassen? Die sich im Gegensatz zu Lehrer/innen nicht an einem Lehrplan orientieren und auf Schulbücher zurückgreifen können? Und dann sollen sie den Kindern noch eine Fremdsprache beibringen, obwohl 20, 30 oder gar 50% der Kinder in ihren Gruppen aus Familien mit Migrationshintergrund stammen und erst einmal Deutsch lernen müssen?

Selbst wenn man die Fortbildung von Erzieher/innen intensiviert, die Gruppengröße auf 12 bis 15 Kinder absenkt, vor- und nachmittags unterschiedliches Personal einsetzt, sodass Erzieher/innen wie Lehrer/innen einen halben Tag Vorbereitungszeit haben, Vorschulunterricht einführt und Maßnahmen der Qualitätssicherung implementiert - was vermutlich eine Verdoppelung bzw. Verdreifachung der bisher aufgewendeten Finanzmittel voraussetzt -, ist nicht zu erwarten, dass mit Schulbeginn Chancengleichheit erreicht werden kann.

Wenn Familien soziale Ungleichheit reproduzieren, ist somit nicht die Lösung, alle Kinder so früh und so viele Stunden pro Tag wie möglich aus den Familien herauszunehmen und in Kindertagesstätten unterzubringen. Bisher gibt es keine Belege dafür, dass diese Einrichtungen bessere Bildungs- und Erziehungssettings sind als Durchschnittsfamilien. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Dies lässt sich zum einen aufgrund der Hunderte von Studien vermuten, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden. In Dutzenden von Überblicksartikeln, so genannten Metaanalysen, wurden auf Grundlage dieser Untersuchungen die Effektstärken einzelner Merkmale berechnet. Dabei zeigte sich, dass die Effektstärke der Lernbedingungen in der Familie größer war als die Effektstärken von Schul-, Lehrer-, Unterrichts- oder Methoden-merkmalen (Fraser et al. 1987). Zum anderen belegte die m.W. erste Längsschnittuntersuchung in Deutschland, die sowohl den Einfluss von der Familie als auch von Kindergarten und Schule auf die Entwicklung und die Schulleistungen von Kindern erfasste, dass der Kindergarten von geringerer Bedeutung als die Familie für die kindliche Entwicklung und späteren Schulleistungen ist (Tietze, Rossbach und Grenner 2005).

Am Rande angemerkt: Wenn man davon ausgeht, dass eine alle Kleinkinder umfassende, ganztätige Kinderbetreuung eine so große positive Bedeutung hat, wie im Thesenpapier des Managerkreises vermutet, hätten bei der PISA-E Studie die ostdeutschen Bundesländer am besten abschneiden müssen, da sich hier die meisten Plätze für Unter-Dreijährige und die meisten Ganztagsplätze befinden. Wie wir wissen, haben aber Schüler/innen aus Bayern und Baden-Württemberg die besten Ergebnisse erzielt, die in ihrer Kleinkindheit vergleichsweise wenig Kindertagesbetreuung erfahren haben...

Laut den vorliegenden Forschungsergebnissen ist somit die Familie die wichtigste Bildungsinstitution, zumindest in den ersten Lebensjahren. Mit dieser Aussage wird nicht ignoriert, dass einige Familien "bildungsstark" und andere Familien - insbesondere Unterschichtfamilien und Familien mit Migrationshintergrund - "bildungsschwach" sind. Daraus sollte man aber folgende Konsequenzen ziehen:

  1. Die große Bedeutung von Familien für die Entwicklung von Kindern sollte generell anerkannt werden. Familien sind als die ersten Bildungsinstitutionen zu definieren.
  2. Insbesondere während der ersten Lebensjahre der Kinder sollten "bildungsmächtige" Familien gestärkt werden.
  3. "Bildungsschwache" Familien müssten besonders intensiv unterstützt werden: Einerseits sollten die Eltern Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichen, die Entwicklung ihrer Kinder besser zu fördern. Andererseits sollten für die Kinder kompensatorische Maßnahmen angeboten werden, durch die Entwicklungsverzögerungen frühstmöglich abgebaut werden und eine mangelnde Stimulierung ausgeglichen wird.

Wenn Bildungs-, Familien- und Kommunalpolitik die Begabungsressourcen der nachwachsenden Generation ausschöpfen wollen, damit Deutschland auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben und Herausforderungen wie z.B. die Überalterung der Bevölkerung meistern kann, müssen sie somit die "Bildungsmacht" der Familien stärken. Dies geht nur, wenn Mittel für die Entwicklung von Programmen bereitgestellt werden, mit denen eine Verbesserung bildungsrelevanter Familienfaktoren erreicht werden kann. Konnte der Erfolg dieser Programme nachgewiesen werden, müsste seitens der Politik die flächendeckende Umsetzung finanziert werden.

Da die Durchführung der Programme eine bestimmte Qualifikation der Referent/innen verlangt und zumeist in Kursform erfolgen dürfte, sollte diese Aufgabe vor allem Trägern der Familienbildung übertragen werden. Die Angebote müssten aber zu einem großen Teil außerhalb von Erwachsenenbildungseinrichtungen stattfinden, also z.B. in Kindertageseinrichtungen und Schulen, weil nur dort alle Eltern angesprochen werden können. Sozial benachteiligte Familien oder Familien mit Migrationshintergrund können auch relativ gut mit Hilfe von aufsuchenden und stadtteilorientierten Arbeitsformen und durch die Einbindung von Fachkräften bzw. Multiplikator/innen mit Migrationshintergrund erreicht werden - hierzu liegen viele Erfahrungen aus Modellprojekten vor.

Flankierend sollten kompensatorische Programme für (Klein-) Kinder durchgeführt werden, die z.B. die deutsche Sprache nur unzureichend beherrschen oder durch Entwicklungsverzögerungen auffallen. Da inzwischen nahezu alle Kleinkinder Kindertageseinrichtungen besuchen, fallen diese Kinder den Erzieher/innen bald auf. Können die Kinder in der Einrichtung nicht ausreichend gefördert werden, sollten die Fachkräfte ihnen (bzw. ihren Eltern) kompensatorische Angebote erschließen, die z.B. von Frühförderstellen angeboten werden. In allen Bundesländern gibt es inzwischen auch Sprachförderprogramme für Kleinkinder.

Literatur

Fraser, B.J. et al.: Syntheses of Educational Productivity Research. International Journal of Educational Research 1987, 11, S. 147-251

Krumm, V.: Über die Vernachlässigung der Eltern durch Lehrer und Erziehungswissenschaft. Plädoyer für eine veränderte Rolle der Lehrer bei der Erziehung der Kinder. Manuskript. Salzburg 1995

Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung: Bildung und Beschäftigung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2005

Tietze, W./Roßbach, H.-G./Grenner, K.: Kinder von 4 bis 8 Jahren. Zur Qualität der Erziehung und Bildung in Kindergarten, Grundschule und Familie. Weinheim 2005