Offene Adoptionsformen
Martin R. Textor
"Offene Adoption" ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Adoptionsformen, die sich hinsichtlich des Grades der Intensität von Kontakten zwischen leiblichen Eltern und Adoptivfamilien unterscheiden. Bei schwächeren Formen wird das Inkognito der Adoptiveltern aufrechterhalten; bei stärkeren verzichten diese auf ihr in § 1758 Abs. 1 BGB begründetes Recht auf Anonymität. Es ist offensichtlich, dass offene Adoptionen mit intensiven Kontakten und Dauerpflege viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Jedoch haben die Adoptiveltern bei offenen Adoptionen das Kind als Kind angenommen und besitzen die vollen Elternrechte. Sie können dementsprechend dessen Umgang bestimmen, also z.B. bei negativen Auswirkungen jegliche Beziehung zu den leiblichen Eltern unterbinden.
"Während (vor 1910) überwiegend Kinder von Verwandten oder Bekannten adoptiert wurden, also ein Kontakt zwischen Adoptiveltern, genetischen Eltern und Adoptierten schon vor der Adoption bestand, nahm insbesondere in der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der 'Fremdadoptionen' und dabei die Adoption von nichtehelichen Kindern zu" (Grob 1984, S. 70). Dabei machten die nach 1910 entstehenden Adoptionsvermittlungsstellen die Erfahrung, dass sich Adoptionsbewerber zurückzogen, wenn ihr Name und ihre Anschrift den leiblichen Eltern mitgeteilt werden sollten. Die Bewerber wollten nicht nur ihre Infertilität verbergen, sondern so weit wie möglich dem normalen Familiengründungsmuster folgen. So begannen Adoptionsvermittlungsstellen, vermehrt Inkognitoadoptionen durchzuführen, bis diese zur Regel wurden. In diesem Verhalten wurden sie auch durch eine Entscheidung des Reichsgerichts von 1928 bestärkt. Hinzu kam, dass viele fachliche Gründe für Inkognitoadoptionen zu sprechen schienen: So glaubte man, dass ein Kind nur zu einem Elternpaar positive Eltern-Kind-Beziehungen entwickeln könne, dass es in der damals noch sexualfeindlichen Gesellschaft vor dem Stigma der nichtehelichen Geburt geschützt werden müsse und dass es in der Familie seiner neuen Eltern ungestört (d.h. ohne Einmischung seitens leiblicher Verwandter) aufwachsen solle. Ferner ging man davon aus, dass die leiblichen Mütter sich nicht um ihre Kinder sorgen und sie bald vergessen würden (Grob 1984; Dorner 1987; Fthenakis 1987).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an der Praxis von Inkognitoadoptionen festgehalten. Dies wurde durch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1951 bestätigt, nach dem die Geheimhaltung im Interesse des Kindes sei. In der Diskussion vor Verabschiedung des § 1765 BGB war wohl etwas umstritten, ob die leiblichen Eltern mit der Adoption auch das Umgangsrecht verlieren sollten. Der Gesetzgeber nahm jedoch eine ablehnende Haltung ein, die 1971 durch ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts bestätigt wurde. So spielten bei der Verabschiedung des Adoptionsrechts (1976) die Rechte der leiblichen Eltern keine Rolle mehr, obwohl in keinem anderen Bereich (z.B. bei Verbrechen am Kind) die Einschränkung der Elternrechte derartig radikal ist; es verbleibt in der Regel zumindest ein Auskunftsrecht (Grob 1984; Nehlsen 1987).
Erst seit Beginn der 1980-er Jahre werden die mit der Inkognitoadoption verbundenen Probleme erkannt und diskutiert. Es wurde deutlich, dass viele leibliche Mütter nach der Adoption ihr Kind nicht vergessen, jahrelang um es trauern und oft psychische oder psychosomatische Störungen entwickeln (Textor 1989). Auch werden sie durch die Anonymität abgewertet. Zudem scheinen immer weniger Frauen bereit zu sein, ihre Kinder unter den bisherigen Bedingungen zur Adoption freizugeben (GZA 1986). Ferner wurde erkannt, dass es Adoptiveltern durch die Inkognitoadoption (und die mangelnde Aufklärung über die Vorgeschichte ihrer Kinder) ermöglicht wird, einer für die kindliche Entwicklung positiven "Normalisierung eigener Art" (Kirk 1981; Hoffmann-Riem 1984) aus dem Weg zu gehen und das Kind als "Besitz" zu betrachten. Auch kann unter diesen Umständen das Thema "Adoption" tabuisiert werden, so dass das Kind in der daraus resultierenden Atmosphäre der Geheimnistuerei und Angst mit adoptionsbezogenen Problemen alleingelassen ist. Zudem kann sein "böses Blut" für Erziehungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich gemacht werden (Lork 1986; Demick und Wapner 1988; Eder 1988). Adoptivkinder entwickeln bei Inkognitoadoptionen oft Identitätskonflikte. Es fällt ihnen schwer, die Tatsache zu verarbeiten, dass sie "Kinder mit zwei Elternpaaren" sind und dass ihre Herkunft im Dunkeln liegt. So schreibt z.B. Inglis (1984): "Mütter und Väter, die Körper und Leben, von denen die Kinder kamen, sind wie Geister, haben keine Substanz, keine Gesichter, keine Namen, keine persönlich übermittelte Geschichte und - was für einige Kinder am allerwichtigsten ist - sie können keine Erklärung für ihre Abwesenheit geben" (S. 13). Manche Adoptierte entwickeln ein so starkes Bedürfnis nach einem Kennenlernen der leiblichen Eltern, dass sie sich auf die Suche nach ihnen begeben (Demick und Wapner 1988; Textor 1990). Es wurde also erkannt, dass sich die drei Seiten des "Adoptionsdreiecks" gedanklich intensiv miteinander beschäftigen und dass es dabei zu problematischen Entwicklungen kommen kann, da eine oder zwei Seiten unbekannte Größen bleiben.
Diese kurz skizzierten Erkenntnisse führten dazu, dass man die bisherige Vermittlungspraxis in Frage stellte. Manche Sozialarbeiter begannen im Verlauf der 1980-er Jahre, mit offenen Formen der Adoption zu experimentieren. Sie vertraten die Auffassung, dass sowohl die leiblichen Eltern als auch die Adoptiveltern am Gedeihen des betroffenen Kindes interessiert sind und zu dessen Wohl zusammenarbeiten können. Auch glaubten sie, dass die leiblichen Eltern wollen, dass die von ihnen gezeugten Kinder von den Adoptiveltern geliebt werden und dass sie sich deshalb nicht in deren Erziehung einmischen werden. Schließlich wurde davon ausgegangen, dass Adoptivkinder mehr als ein Elternpaar lieben können (Rillera und Kaplan 1985). Von Bedeutung ist ferner, dass heute leibliche Eltern im Gegensatz zu früher eher als Klienten mit bestimmten Rechten und zu berücksichtigenden Bedürfnissen betrachtet werden und dass in der Sozialarbeit mehr als zuvor Offenheit, Vertrauen, Transparenz des Verfahrens und Mitwirkung der Klienten betont werden (Belbas 1987; GZA o.J.). Schließlich werden mehr ältere Kinder vermittelt, die bereits Bindungen an leibliche Verwandte entwickelt haben, die es zu schützen gilt (Fratter 1989).
Arten und Häufigkeit offener Adoptionen
Es gibt nicht die offene Adoption. Vielmehr müssen nach dem Grad der Offenheit verschiedene Formen unterschieden werden, insbesondere:
- Einbeziehung der leiblichen Eltern in die Auswahl der Adoptiveltern;
- einmaliges Zusammentreffen von leiblichen Eltern und Adoptiveltern, etwa zum Zeitpunkt der Übergabe des Kindes (unter Umständen bei Wahrung des Inkognitos);
- fortlaufende wechselseitige Information von leiblichen Eltern und Adoptiveltern über ihr Leben via die Adoptionsvermittlungsstelle, wobei die Anonymität der Adoptiveltern gewährleistet werden kann;
- regelmäßiger Austausch von Briefen, Fotos und/oder Videotapes zwischen den leiblichen Eltern und der Adoptivfamilie, der entweder direkt oder über die Adoptionsvermittlungsstelle (unter Wahrung des Inkognitos) erfolgen kann;
- fortlaufender persönlicher Kontakt zwischen leiblichen Eltern und Adoptivfamilie, der sich nach dem Grad der Intensität weiter differenzieren ließe.
Die ersten vier Formen sollen im Folgenden als "halboffen" bezeichnet werden. Da sie als relativ unproblematisch gelten, wird auf eine intensive Diskussion derselben verzichtet. Die fünfte Form stellt die "offene" Adoption im eigentlichen Sinne dar. Offensichtlich ist, dass vor allem die dritte und vierte Form jederzeit in eine offene Adoption mit persönlichem Kontakt überführt werden können.
Über die Häufigkeit offener Adoptionsformen liegen erst Einzelangaben vor. So wurde auf einer Tagung der Gemeinsamen Zentralen Adoptionsstelle (GZA) folgendes ermittelt: "Gleichwohl liegt offenbar eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Erfahrungen mit offener oder geöffneter Adoption vor. So berichteten immerhin gut ein Drittel der Teilnehmer/innen, dass sie eine oder mehrere halboffene, und etwa ein Viertel von ihnen, dass sie eine oder mehrere offene Adoptionen durchgeführt hätten" (GZA o.J., S. 3). Eine vom Autor Anfang 1990 durchgeführte Befragung von 117 Adoptionsvermittlern im Freistaat Bayern ergab, dass in der letzten Zeit 312 halboffene Adoptionen mit fortlaufender Information der Beteiligten über die Entwicklung der jeweils anderen Seite durch die Adoptionsvermittler, 121 halboffene Adoptionen mit einer über die Adoptionsvermittler laufenden Weiterleitung von Briefen u.Ä., 56 Adoptionen mit einem einmaligen Zusammentreffen der Beteiligten unter Wahrung des Inkognitos, 46 Adoptionen mit einem fortlaufenden brieflichen oder telefonischen Kontakt zwischen den Beteiligten (kein Inkognito) und 63 offene Adoptionen mit einem fortlaufenden persönlichen Kontakt durchgeführt wurden. Jedoch kommen diese Zahlen durch die Nennungen einiger weniger Adoptionsvermittler zustande: Zum einen haben nur maximal 52 der 117 Fachkräfte die jeweiligen Fragen beantwortet, zum anderen ist die häufigste Antwort hinsichtlich jeder der vorgegebenen fünf Adoptionsformen: "ein Fall".
Dies bedeutet, dass eine Gruppe von Adoptionsvermittlern überhaupt keine offenen Adoptionsformen eingesetzt, eine zweite sie nur für wenige Einzelfälle wählt und eine dritte sie recht häufig in die Tat umsetzt. Aus diesem Verhalten lässt sich auf unterschiedliche handlungsleitende Einstellungen schließen. Dementsprechend ergab die Befragung von 117 bayerischen Fachkräften, dass bereits mehr als 60% der Befragten die reine Inkognitoadoption "negativ" oder "sehr negativ" sehen. Ihre Zahl dürfte noch zunehmen, da eine positivere Bewertung der Inkognitoadoption vor allem von Adoptionsvermittlern im Alter von 46 Jahren und älter gewählt wurde. Die halboffenen Formen der Adoption, bei denen das Inkognito der Adoptiveltern gewahrt wird, finden die größte Zustimmung seitens der bayerischen Adoptionsvermittler (zwischen 50% und knapp 70%). Sowohl weibliche als auch jüngere Befragte kommen überdurchschnittlich häufig zu einer positiven Bewertung; ähnliches gilt für Vermittler, die zwischen vier und zehn Jahren im Adoptionswesen tätig sind oder die besonders wenig adoptionsfremde Aufgaben zu erledigen haben. Eine Adoption mit einem fortlaufenden brieflichen oder persönlichen Kontakt zwischen den Beteiligten (kein Inkognito) und eine Adoption mit einem fortlaufenden persönlichen Kontakt werden von 25% bzw. 18% der Befragten positiv bewertet; 21% bzw. 28% kommen zu einem negativen Urteil. Offene Formen der Adoption werden also von einem Viertel der bayerischen Adoptionsvermittler abgelehnt; mehr als die Hälfte wählt eine "neutrale" Position.
Vorteile und Gefahren offener Adoptionen
Die möglichen Vor- oder Nachteile offener Adoptionen mit persönlichem Kontakt zwischen leiblichen Eltern und Adoptivfamilie sollen an dieser Stelle nur thesenhaft formuliert werden. Es werden immer zunächst die Vorteile und dann die Nachteile für eine der drei Seiten des "Adoptionsdreiecks" genannt:
- Für leibliche Eltern bestehen Vorteile darin, dass offene Adoptionen die Freigabeentscheidung und deren Verarbeitung erleichtern können. Es wird damit gerechnet, dass die Eltern weniger Trauer, Schmerz, Reue und Schuldgefühle mit den daraus resultierenden negativen Folgen für die psychische Entwicklung und spätere Partnerbeziehungen erleben werden. So bleiben sie mit ihren Kindern in Kontakt, müssen sich keine Sorgen um ihr Wohl machen, können ihnen ihre Liebe zeigen und können jederzeit ihre Gründe für deren Freigabe zur Adoption darstellen.
- Im Hinblick auf die leiblichen Eltern liegen Gefahren der offenen Adoption darin, dass der Trauerprozess länger und intensiver sein kann, da die leiblichen Eltern ihre Kinder sehen und nach ihnen verlangen wollen. Sie können auf die Adoptiveltern eifersüchtig werden, ihnen gegenüber ambivalent reagieren oder sie ablehnen. Auch haben sie keine Eingriffsmöglichkeiten, wenn sie mit deren Erziehungsverhalten nicht einverstanden sind. Ferner besteht die Gefahr, dass sie die Adoptiveltern mit ihren persönlichen Problemen und Partnerkonflikten belasten und sie in eine Helfer- oder Elternrolle hineinzudrängen versuchen. Sie können möglicherweise auch auf Ablehnung seitens der Adoptivfamilie stoßen, die nur schwer zu verarbeiten sein dürfte. Ferner ist eher mit negativen Umwelterfahrungen zu rechnen, da sich offene Adoptionen nicht verheimlichen lassen.
- Vorteile für die Adoptiveltern dürften darin liegen, dass sie bei offenen Adoptionen mehr Informationen über das Adoptivkind und seine Herkunft haben sowie diese jederzeit ergänzen können. Sie erlangen ein realistisches Bild von den leiblichen Eltern, so dass Phantasien, Ängste und Vorurteile eine geringere Rolle als bei Inkognitoadoptionen spielen dürften. Zudem können sie die Adoption weder leugnen noch als Gesprächsthema tabuisieren, müssen sie sich als Adoptivfamilie definieren ("Normalisierung eigener Art").
- Nachteile einer offenen Adoption könnten für Adoptiveltern darin liegen, dass sie viele belastende Informationen über die leiblichen Eltern erfahren oder durch den persönlichen Kontakt ein negatives Bild von ihnen gewinnen - sie z.B. als psychisch krank, als lebensunfähig oder als Personen sehen, die ihre Kinder vernachlässigen oder misshandeln. Diese Erfahrungen können nicht nur zur Ablehnung der leiblichen Eltern, sondern auch zu negativen Voreinstellungen gegenüber dem Adoptivkind (sich selbst erfüllende Prophezeiungen) oder zur Betonung der biogenetischen Fremdheit führen. Wird die ablehnende Haltung verdrängt, so kann sie sich indirekt im Verhalten gegenüber dem Kind zeigen. Generell besteht die Gefahr, dass der Kontakt mit den leiblichen Eltern die Übernahme der Elternrolle und die emotionale Normalisierung erschwert, die Eingewöhnungszeit belastender macht und zu Schuldgefühlen führt. Auch kann es dazu kommen, dass die leiblichen Eltern die Eltern-Kind-Beziehung zu stören und das Adoptionsverhältnis zu sabotieren versuchen, sich in die Erziehung einmischen oder um die Zuneigung und Loyalität des Kindes kämpfen.
- Zu den Vorteilen offener Adoptionen für Adoptivkinder gehört, dass sie sich selbst ein Bild von den leiblichen Eltern machen und direkten Zugang zu Informationen über ihre Herkunft haben. So ist mit weniger pathogen wirkenden Ängsten und Phantasien, mit weniger Identitätskonflikten zu rechnen. Da die Adoptierten mit den leiblichen Eltern über die Freigabegründe diskutieren und Verständnis für deren Situation entwickeln können, dürften sie sich weniger als durch diese abgelehnt und verstoßen erleben und dementsprechend ein positiveres Selbstbild entwickeln. Kinder, die zum Zeitpunkt der Freigabe zur Adoption bereits älter sind, können ihre Bindungen an leibliche Verwandte aufrechterhalten. Dieses dürfte die Eingewöhnung in die Adoptivfamilie erleichtern, da weniger Trauer und Disloyalität erlebt würden.
- Gefahren offener Adoptionen hinsichtlich der Entwicklung von Adoptivkindern könnten darin bestehen, dass z.B. deren Integration in die Adoptivfamilie erschwert wird: Sie mögen sich verwirrt, unsicher und zwischen beiden Elternpaaren hin- und hergerissen erleben, Loyalitätskonflikte empfinden oder befürchten, dass die leiblichen Eltern sie eines Tages zurückhaben wollen (dies gilt vor allem für Kinder, die zum Zeitpunkt der Adoption bereits älter sind). So mag der Bindungsprozess gefährdet werden und eine weniger enge Beziehung zu den Adoptiveltern als bei Inkognitoadoptionen entstehen. Verwirrung und Verhaltensunsicherheit können aber auch dadurch entstehen, dass die Adoptivkinder seitens der beiden Elternpaare mit unterschiedlichen Lebens- und Sprachstilen, Werten und Einstellungen, Erziehungszielen und Leitbildern konfrontiert werden (z.B. bei großen Schichtunterschieden). In diesen oder ähnlichen Fällen mögen sie auch versuchen, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Ferner kann die Identitätsentwicklung durch die Konfrontation mit vier Elternteilen (widersprüchliche Identifikationen und Introjekte) und die unübliche Lebenssituation erschwert werden. Zudem dürfte bei den meisten offenen Adoptionen ein Elternteil (leiblicher Vater) weiterhin eine unbekannte Größe bleiben. Schließlich besteht noch die Gefahr, dass Adoptivkinder ein negatives Selbstbild entwickeln, wenn die leiblichen Eltern einen sehr viel niedrigeren Status als die Adoptiveltern haben, oder dass sie von leiblichen Verwandten negativ beeinflusst werden (schlechtes Vorbild).
(Vor- und Nachteile offener Adoptionen werden ausführlicher dargestellt in: Rillera und Kaplan 1985; Demick und Wapner 1988; Textor 1988; GZA o.J.; Lutheran Social Service of Texas o.J.).
Auswertung offener Adoptionen
Trotz sorgfältiger Recherchen habe ich nur zwei wissenschaftliche Studien über Erfahrungen mit offenen Adoptionen finden können - sieht man von einzelnen Fallbeispielen ab. Belbas (1987) untersuchte 12 Adoptivfamilien, die 22 Kinder durch drei texanische Adoptionsvermittlungsstellen adoptiert hatten. Sieben Familien hatten minimalen, zwei mittleren und drei maximalen Kontakt zu den leiblichen Eltern. Die Adoptivkinder waren zum Zeitpunkt der Befragung zwischen drei und fünf Jahren alt.
Nur ein Ehepaar hatte vor dem ersten Gespräch in der Adoptionsvermittlungsstelle über die Möglichkeit einer offenen Adoption nachgedacht. Den meisten Eltern, insbesondere den Vätern, widerstrebte zunächst eine solche Adoptionsform. Auch verspürten sie große Angst und Unsicherheit vor dem ersten Treffen mit den leiblichen Eltern. Zum Zeitpunkt der Untersuchung befürchteten sie, dass diese den Kontakt abbrechen könnten - was nur schwer ihren Kindern zu erklären sein dürfte - oder dass es für ihre Kinder schwierig sein könnte, die Rolle der leiblichen Mutter in ihrem Leben zu verstehen. Belbas berichtete, dass alle Adoptiveltern Empathie gegenüber den leiblichen Müttern (aber nur wenig Empathie gegenüber leiblichen Vätern) zeigten, deren Perspektive verstanden, viel Sorge um das Wohl des Kindes in deren Verhalten sahen und sie keineswegs verurteilten. Auch hatten sie Verständnis für das Bedürfnis von Adoptivkindern, ihre Herkunft zu kennen und Kontakt mit den leiblichen Eltern zu haben. "Weniger als die Hälfte der Eltern antworteten mit 'nein' auf die Frage, ob die offene Adoption ihr Alltagsleben beeinflussen würde. Die anderen meinten, dass sie sich aufgrund des Kontaktes dem Kind näher fühlen ... oder dass dieser sie immer wieder daran erinnert, dass sie nicht die einzigen Eltern des Kindes sind" (Belbas 1987, S.195). Ansonsten wurde von keinen negativen Auswirkungen auf die Eltern Kind-Beziehung gesprochen. Alle Adoptiveltern fühlten sich von den Kindern geliebt und sahen sich als deren wahre Eltern. Auch befürchteten sie nicht, dass die leiblichen Eltern eines Tages ihr Kind zurückhaben möchten.
Fratter (1989) befragte 22 Adoptivfamilien (darunter zwei Alleinerziehende), die 32 Kinder adoptiert hatten. Im Gegensatz zu der Untersuchung von Belbas handelte es sich in 30 Fällen um "special needs adoptions" (von älteren oder behinderten Kindern). Zwei der 22 Familien hatten zum Zeitpunkt der Befragung keinen Kontakt mehr zu den leiblichen Eltern, sechs praktizierten halboffene und 14 offene Adoptionen. Vier Ehepaare hatten schon vor dem ersten Gespräch in der Adoptionsvermittlungsstelle über die Möglichkeit eines regelmäßigen Kontakts mit den leiblichen Eltern nachgedacht; 14 Paare wurden in diese Richtung von den Adoptionsvermittlern beeinflusst. In 13 Fällen hatten die Adoptiveltern von sich aus Kontakt zu den leiblichen Eltern aufgenommen oder aufrechterhalten. "Es gab 16 Familien, die Vorteile für sich und ihre Kinder beschrieben, fünf hatten Schwierigkeiten mit einigen Aspekten des Kontakts erlebt, und ein Paar vermittelte den Eindruck von Unbehagen über die offene Adoption, ohne aber bestimmte Gründe herauszustellen" (Fratter 1989, S. 22). In sechs Fällen, die acht Kinder betrafen, gab es Probleme und Spannungen zwischen beiden Elternpaaren. Ansonsten stellten die Adoptiveltern keinen negativen Einfluss der offenen Adoption auf die Bindungen der Kinder fest. Sie sahen positive Auswirkungen für deren Identitätsentwicklung (Kontinuität) und berichteten, dass die Kinder die Umstände der Adoption verstanden (weniger Phantasien und Schuldgefühle). Die meisten Kinder konnten Beziehungen zu den Adoptiveltern eingehen, ohne sich als disloyal gegenüber den leiblichen Eltern zu erleben - mit Ausnahme von sechs Fällen, in denen die biologischen Eltern dem Kind gegenüber Vorbehalte hinsichtlich der Adoption ausgesprochen hatten. Auch belasteten zwei leibliche Mütter die Kinder mit ihrer Trauer und behielten ihnen gegenüber eine Elternrolle bei. In den übrigen Fällen übernahmen die leiblichen Eltern die Rolle entfernter Verwandter. Nach Aussage der Adoptiveltern akzeptierten sie in 16 Fällen den Verlust ihrer Kinder und gewannen an Selbstachtung durch die Beteiligung an der Adoption. In den übrigen Fällen schienen sie den Verlust noch nicht verarbeitet zu haben.
Konsequenzen für die Adoptionsvermittlung
Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ist es nicht angezeigt, Formen der offenen oder halboffenen Adoption zu einer neuen Norm zu machen. Offene Adoptionsformen sollten jedoch im Einzelfall immer als Alternativen zur Inkognitoadoption mitbedacht werden. So dürfte es sinnvoll sein, alle möglichen Optionen sowohl mit den leiblichen Eltern als auch mit den jeweiligen Adoptionsbewerbern zu besprechen. Es sollte versucht werden, die leiblichen Väter einzubeziehen: Sie haben das Recht und die Pflicht, an Entscheidungen über den weiteren Lebensweg ihrer Kinder mitzuwirken. Gerade bei offenen Adoptionen mag auch das Interesse der Adoptivkinder an ihren noch unbekannten leiblichen Vätern besonders groß werden. Bei diesen Vorgesprächen müssen Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Einstellungen usw. aller Klienten erfasst werden. Erst dann kann entschieden werden, welche Adoptionsform für das betroffene Kind die beste ist. Die ausgewählte Form muss von allen Beteiligten akzeptiert werden; dem Sozialarbeiter bleibt aber die endgültige Entscheidung überlassen.
Sollte die Wahl auf die offene Adoption gefallen sein, so müssen die leiblichen Eltern und die zukünftigen Adoptiveltern zunächst auf das erste gemeinsame Treffen vorbereitet werden. Ängste und Vorbehalte sind abzubauen, Verständnis und Toleranz gegenüber der jeweils anderen Seite zu wecken. Das erste Zusammentreffen dient nur dem gegenseitigen Kennenlernen - es kann, wie auch spätere Gespräche, mit oder ohne Adoptionsvermittler stattfinden. Im Verlauf weiterer Treffen tauschen sich die leiblichen Eltern und die Bewerber über ihren bisherigen Lebensweg und ihre gegenwärtige Situation, über ihre Werte, Einstellungen, Erwartungen und Erziehungsvorstellungen aus. Sie gewinnen Verständnis für die Situation der anderen Seite, fühlen sich angenommen und akzeptiert. Verlaufen die Gespräche weniger positiv, so sollten sie jederzeit das Recht haben, weitere Kontakte abzulehnen. Im anderen Fall muss die Beziehung zwischen leiblichen Eltern und Adoptiveltern definiert, müssen Regelungen hinsichtlich Rollen, Verantwortlichkeiten, Besuche, Verhältnis zum Kind, Verwandtenkontakte usw. festgelegt werden, die flexibel sein und das wachsende Mitspracherecht der Kinder berücksichtigen sollten. Dabei sind die Rollen möglichst klar zu differenzieren: Den leiblichen Eltern muss klar sein, dass sie in Zukunft wie entfernte Verwandte zu agieren haben, dass die Erziehung des Kindes Aufgabe der Adoptiveltern ist, dass diese die vollen Elternrechte mit der Adoption erhalten und über den Umgang des Kindes bestimmen können (rechtliche Aufklärung). Schließlich kann bei den gemeinsamen Treffen über den Verlauf der Schwangerschaft, die Anwesenheit der zukünftigen Adoptiveltern bei der Geburt, die Taufe und die Übergabe des Kindes diskutiert werden (Rillera und Kaplan 1985; Baer 1988).
Generell besteht die Möglichkeit, einen Vertrag über Art, Dauer und Häufigkeit der Kontakte zwischen leiblichen Eltern und Adoptivfamilie zu schließen. Dieser darf aber nicht Bedingung für die Freigabe des Kindes zur Adoption sein (§ 1750 Abs. 2 BGB) oder Vertragsstrafen enthalten. Auch muss den Vertragspartnern bewusst sein, dass die Adoptiveltern jederzeit die Vereinbarungen widerrufen können (Elternrechte). Die Fortsetzung des Umgangs dürfte seitens der leiblichen Eltern gerichtlich kaum durchzusetzen sein, selbst wenn die Beziehung zum Kind positiv ist. So haben sie z.B. kein Antragsrecht beim Vormundschaftsgericht (Nehlsen 1987).
Abschließend ist nach kurz auf die Situation einzugehen, die bei der offenen Adoption älterer Kinder entsteht. Diese müssen auf ihre neue Lebenssituation gründlich vorbereitet werden. So sollten die leiblichen Eltern ihnen offen sagen, dass sie nicht für sie sorgen können, dass dieses nicht Schuld der Kinder ist, dass sie sich für ihre Freigabe zur Adoption entschieden haben und dass sie sie für neue Eltern-Kind-Beziehungen freigeben. Den Kindern muss beim Verarbeiten der daraus resultierenden Gefühle geholfen werden (z.B. durch das Anlegen eines biographischen Albums). Auch sind die Auswirkungen für ihr Selbstbild zu prüfen. Selbstverständlich sollten sie der offenen Adoption zustimmen. Die Kinder können langsam an ihre neuen Eltern gewöhnt werden - indem sie diese zunächst nur besuchen, dann einige Wochenenden mit ihnen verbringen und schließlich zu ihnen ziehen. Die Adoptiveltern sind nicht nur auf die vom Adoptionsvermittler erhaltenen Informationen über das Kind angewiesen, sondern können von sich aus Kontakt zu den bisherigen Lehrern, Ärzten, Therapeuten und Pflegeeltern des Kindes oder zu entfernten leiblichen Verwandten aufnehmen. In allen Fällen einer offenen Adoption sollte den Adoptiveltern aber nach der Übergabe des Kindes Zeit gelassen werden, in Ruhe und ohne intensivere Kontakte zu leiblichen Verwandten des Kindes die Elternrolle zu übernehmen (Rillera und Kaplan 1985).
Quelle
Aus: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1991, 71, S. 107-111
Literatur
Baer, I.: Internationale Entwicklungen zum Themenbereich: "Adoptierte suchen ihre Ursprungsfamilie". Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 1988, 68, S. 148-151.
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Demick, J., Wapner, S.: Open and closed adoption: A developmental conceptualization. Family Process 1988, 27, S. 229-249.
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Fratter, J.: How adoptive parents feel about contact with birth parents after adoption. Adoption and Fostering 1989, 13 (4), S. 18-26.
Fthenakis, W.E.: Die Entwicklung des Adoptionswesens aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Referat auf der Tagung "Eltern-Wechsel. Problemfeld Adoption" der Evangelischen Akademie Tutzing in Heilbronn, 25. September 1987.
Grob, J.: Die elterliche Einwilligung in die Adoption. Unveröffentlichte Dissertation. Tübingen: Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen 1984.
GZA (Hg.): Zur Situation und Perspektive abgebender Mütter. Dokumentation einer Fortbildungsveranstaltung der GZA im März 1986 in Reinbek bei Hamburg. Hamburg: Selbstverlag 1986.
GZA: Offene Adoption. Eine mögliche Hilfe für Abgebende, Anzunehmende und Annehmende. Kommentar zu einer Fortbildungsveranstaltung der GZA im April 1987 in Reinbek bei Hamburg. Hamburg: Selbstverlag o.J.
Hoffmann-Riem, 0.: Das adoptierte Kind. Familienleben mit doppelter Elternschaft. München: Fink 1984.
Inglis, K.: Living mistakes. Mothers who consented to Adoption. Sydney, London, Boston: Allen & Unwin 1984.
Kirk, H.D.: Adoptive kinship: A modern institution in need of reform. Toronto: Butterworths 1981.
Lork, U.: Adoption - die beste Lösung? Paten 1986, 3, S. 11-12.
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In: Bayerisches Landesjugendamt (Hg.): Offene Formen der Adoption. Lockerung des Inkognitos. Fachtagung am 9. November 1987, veranstaltet vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesjugendamt. München: Selbstverlag 1987, S. 79-96.
Rillera, M.J., Kaplan, S.: Cooperative Adoption: A handbook. Westminster: Triadoption 1985.
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Textor, M.R.: Offene Adoptionsformen. Abschlußbericht zu Projekt 05/87/1a/MT. Manuskript. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Familienforschung 1988 (vergriffen).
Textor, M.R.: Vergessene Mütter, die nicht vergessen können. Leibliche Eltern von Adoptivkindern. Neue Praxis 1989, 19, S. 323-336.
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