Bilderbuchbetrachtung - was Eltern von Erzieherinnen und Erzieherinnen von Eltern lernen können
Martin R. Textor
Sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Familie ist die Bilderbuchbetrachtung ein wichtiges Angebot zu Förderung der Entwicklung von Kleinkindern. In der Kindertagesstätte findet sie zumeist in einer Kleingruppe statt und wird von einer auf dem Gebiet der Frühpädagogik qualifizierten Fachkraft durchgeführt. In der Familie erfolgt sie in der Regel in einer intimen Zweiersituation und wird von einem pädagogisch nicht ausgebildeten Elternteil gestaltet.
So ist es nahe liegend, dass Bilderbuchbetrachtungen in Kindertageseinrichtungen und Familien unterschiedlich verlaufen und mit verschiedenen Lernerfahrungen verbunden sind. Dieser Fragestellung ging Renate Fliedner in ihrer Dissertation nach, die sie im Jahr 2004 als Buch veröffentlichte. Sie filmte teilstandardisierte Bilderbuchbetrachtungen mit vierjährigen Kindern, die von 52 Erzieherinnen und 52 Müttern in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Brandenburg durchgeführt wurden. Dabei interessierte sie sich vor allem für die Distanzierungsanforderungen - also dafür, in welchem Ausmaß sich das jeweilige Kind von der aktuellen Situation lösen musste: Eine geringe Anforderung ist gegeben, wenn es z.B. die Bilder nur beschreibt oder dazu Assoziationen herstellt; bei einer mittleren Anforderung muss es Beobachtetes umformen, Dinge klassifizieren oder Ereignisse aufeinander beziehen; bei einer hohen Anforderungen muss es beispielsweise vorhersagen, wie die Geschichte weiter gehen könnte, oder kausale Schlussfolgerungen ziehen.
Fliedner stellte bei der Analyse der videographierten Bilderbuchbetrachtungen Folgendes fest: "Geschlossene Fragen mit Distanzierungsanforderung auf geringem Niveau und Antworten mit Distanzierungsleistung auf geringem Niveau bestimmen nahezu 70% des beobachteten Interaktionsverhaltens" (S. 226). Das bedeutet, dass die kognitive Entwicklung der Kinder sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Familie nicht in dem Maße angeregt wurde, wie dies z.B. bei einer häufigeren Verwendung offener Fragen möglich wäre. Zudem wurden in etwa 20% der 104 beobachteten Dyaden die Interaktionen von den Erwachsenen dominiert (in weiteren 20% von den Kindern; in 60% verliefen sie balanciert).
Ein Vergleich der videographierten Bilderbuchbetrachtungen in Kindertageseinrichtungen mit denjenigen in Familien zeigte, dass sich die Erzieher/innen mehr Zeit als die Mütter nahmen und etwas häufiger Distanzierungsanforderungen auf mittlerem und höherem Niveau stellten. Auch äußerten sie signifikant mehr Lob und Anerkennung. So schrieb Fliedner: "Die Erzieherinnen gestalten die Lernsituation Bilderbuchbetrachtung eher direktiv, gerichtet auf leistungsorientiertes reaktives Verhalten der Kinder und unter Beachtung der Wirkung positiver Konditionierung" (S. 225). Zudem waren die Erzieherin-Kind-Interaktionen um 25% länger, sodass die Kinder mehr Äußerungen zu verarbeiten hatten.
Bei den Bilderbuchbetrachtungen mit den Müttern waren die Kinder um ein Drittel aktiver, äußerten sich also häufiger und stellten mehr Fragen als bei den Bilderbuchbetrachtungen mit den Erzieherinnen. Sie zeigten in der Familie also mehr Spontaneität und mehr soziale Kompetenz.
Eltern können somit - bezogen auf die Lernsituation Bilderbuchbetrachtung - von den Erzieherinnen lernen, wie sie die kognitiven Anforderungen an ihr Kind steigern können: Sie sollten sie z.B. mehr zum Vergleichen, Kategorisieren und Fantasieren (Vorhersagen des Verlaufs der Geschichte) anhalten. Hingegen können Erzieherinnen von den Eltern lernen, die Kinder weniger zu lenken sowie mehr spontane Äußerungen und Fragen zuzulassen. Beide Seiten sollten sich davor hüten, die Interaktionen zu stark zu lenken oder die Kinder zu häufig zu belehren. Auch könnte sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Familie die kognitive Entwicklung stärker stimuliert werden - nur zwei der 52 Kinder wurden optimal gefördert...
Literatur
Fliedner, Renate (2004): Erwachsenen-Kind-Interaktionen in Familien und Kindergärten. Eine Methode zur Feststellung unterschiedlicher Qualitätsniveaus kognitiver Förderung. Frankfurt/Main: Peter Lang.