Wo gehört die Bildung hin? Ist eine Reform des SGB VIII erforderlich?

Martin R. Textor

 

In allen Bundesländern ist das Kultusministerium für Bildung zuständig. Aber es gibt auch Ausnahmen. Eine davon ist die Familienbildung. Wohl sind die Kultusministerien für Erwachsenenbildung zuständig, werden Familienbildungsveranstaltungen weitgehend nach Ländergesetzen zur Förderung der Erwachsenenbildung finanziert. Aber Familienbildung ist laut § 16 SGB VIII Aufgabe der Jugendhilfe, und so ist z.B. in Bayern das Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen zuständig. Was ist aber so anders, wenn Erwachsene über Partnerschaft und Kindererziehung diskutieren, als wenn sie über Literatur, Psychologie oder Computerprogramme sprechen, eine Fremdsprache oder Yoga lernen? Nichts, werden Sie sagen, also ein Anachronismus? Es hätte nur Vorteile, wenn die Familienbildung vom Kultusministerium verantwortet würde - z.B. könnte leichter Einfluss auf die Schulen genommen und mit diesen kooperiert werden, damit elementare Voraussetzungen für Partnerschaft und Familie wie Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeiten gefördert und Erziehungsfragen thematisiert werden. Auch könnte leichter auf Volkshochschulen und andere Erwachsenenbildungseinrichtungen eingewirkt werden, damit diese der Ehe- und Familienbildung mehr Platz in ihren Programmen einräumen.

Eine andere Ausnahme ist der Kindergarten. Der Deutsche Bildungsrat ordnete ihn im "Strukturplan" (1970) dem Bildungssystem zu, und Erziehungswissenschaftler/innen bezeichnen ihn übereinstimmend als Elementarbereich, auf dem der Primarbereich - die Grundschulen - aufbaut. Dennoch wurden in §§ 22 ff SGB VIII Kindertageseinrichtungen dem Jugendhilfebereich zugeordnet. Trotz dieser bundesgesetzlichen Vorgabe haben 8 Bundesländer Kindertageseinrichtungen dem Kultusministerium zugeordnet, 8 Länder anderen Ministerien. Unabhängig von der Zuordnung werden in einzelnen Ländern wie z.B. Bayern Bildungspläne entwickelt, die für alle Kindertageseinrichtungen verbindlich sein sollen und in denen die Bildung eindeutig im Vordergrund steht. Dies ist ein weiterer Anachronismus in den Fällen, wo Kindertagesstätten den Sozialministerien zugeordnet sind.

Würden Kindertageseinrichtungen in das Bildungssystem eingegliedert, hätte dies gewisse Vorteile:

  • Der Kindergarten könnte einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag bekommen - und nicht einen per Vertrag mit den Eltern abgeleiteten Auftrag -, wie er für die Schulen längst selbstverständlich ist.
  • Die Qualifikation der Erzieher/innen müsste verbessert werden, da der große Abstand zur Qualifikation von Grundschullehrer/innen nicht mehr vertretbar wäre.
  • Erzieher/innen müssten ausreichend Verfügungszeit bekommen, damit sie Bildungsangebote gründlich vorbereiten können.
  • Der Übergang vom Kindergarten zur Schule ließe sich fließender gestalten.
  • Im Schulamt mit klarer Zuständigkeit für Kindergarten und Schule würden Erzieher/innen pädagogisch kompetentere Ansprechpartner erhalten als in vielen (kleinen) Jugendämtern mit ihren höchst unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen.
  • Ein Elternbeitrag würde entfallen, da zumindest der Vormittagsbesuch analog zum Besuch von Grund-, Haupt- und weiterführenden Schulen kostenlos sein müsste.

Und dann sind da noch Jugendarbeit und Jugendbildung. In vielen Bundesländern sind andere Ministerien als die Kultusministerien zuständig, da § 11 SGB VIII diesen Aufgabenbereich der Jugendhilfe zuordnet. Dies ist aber nicht sinnvoll, da Jugendbildung wohl in anderen Kontexten und mit anderen Methoden arbeitet als Schulbildung, aber eben auch Bildung ist - beides sollte einander ergänzen. Und mit der zunehmenden Ausbreitung von Schulen mit Mittagsbetreuung und Ganztagsschulen schrumpft die Zeit am Nachmittag, in der Kinder und Jugendliche Angebote der Jugendarbeit nutzen können. So bietet es sich an, diese teilweise an die Schule zu verlagern und so Schulen zu mehr lebenswerten Orten für Schüler/innen zu machen. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn regte vor kurzem an, "den Unterricht mit Zusatz- und Freizeitangeboten über Vor- und Nachmittag zu verknüpfen und sich vom üblichen 45-Minuten Takt zu lösen. Außerschulische Angebote wie die von Jugendhilfe, Musikschulen und Sportvereinen sollten aufgegriffen und die Kooperation mit sozialen und kulturellen Einrichtungen vor Ort gesucht werden, sagte die Ministerin" (Pressemitteilung des BMBF vom 12.05.2003).Und das geht leichter, wenn die Schulbehörden für die Jugendarbeit zuständig sind.

Sind Familienbildung, Kindergarten, Jugendbildung und -arbeit dem Bildungsbereich zuzuordnen, fallen sie unter die Kulturhoheit der Länder. Sie sind damit laut Grundgesetz originäre Aufgabe der Bundesländer. Damit wären §§ 11, 16, 22, 24, 26 SGB VIII weitgehend obsolet...

Anmerkung

Eine umfassendere Diskussion dieser Thematik findet man in August/September-Heft 2003 des Zentralblatts für Jugendrecht, z.B. im Artikel: Textor, M.R.: Der Kindergarten sucht eine Heimat. Ein Plädoyer für die Abschaffung von § 22 SGB VIII. Zentralblatt für Jugendrecht 2003, 90 (8/9), S. 310-313