Stärkung der Bildungsfunktion von Familien - eine Aufgabe für die Familienbildung
Martin R. Textor
In Tausenden von empirischen Studien und Grundsatzartikeln haben Psycholog/innen, Erziehungswissenschaftler/innen und - in jüngerer Zeit - Hirnforscher/innen nachgewiesen, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die weitere Entwicklung eines Kindes sind. Dieser Zeitabschnitt wird in erster Linie von der Familie geprägt, seit einigen Jahrzehnten auch zunehmend durch Kindertageseinrichtungen.
Während in der Öffentlichkeit weiterhin der Eindruck vorherrscht, dass die Schule die erste und die wichtigste Bildungseinrichtung sei, ist seit langem wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Familie stärker die Bildungslaufbahn eines Kindes prägt als die Schule. Schon in den 1960er Jahren wurden in den Aufsehen erregenden Büchern "Equality of Educational Opportunity" von Coleman et al. (1966) und "Children and Their Primary Schools" von Plowden (1967) anhand von Untersuchungen aufgezeigt, dass der Anteil der Schule am Schulerfolg von Kindern nur etwa halb so groß wie der Anteil der Familie ist. Seitdem wurden Hunderte von empirischen Studien veröffentlicht, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden. Metaanalysen zeigten, dass bei den weitaus meisten Untersuchungen die Effektstärken der Lernbedingungen in der Familie größer waren als die Effektstärken von Schul-, Lehrer-, Unterrichts- und Methodenmerkmalen (Fraser et al. 1987, zusammengefasst von Krumm 1995).
Die Effektstärke von Familienmerkmalen war in 20 von 25 Metaanalysen auch größer als diejenige von Kindmerkmalen. Das heißt, dass z.B. die Bedeutung der genetischen Anlagen nicht überschätzt werden sollte. So können laut Helmke und Weinert (1997) nur ca. 25% der Schulleistungsvarianz anhand der Intelligenz vorhergesagt werden.
Die m.W. erste Längsschnittuntersuchung in Deutschland, die sowohl den Einfluss von der Familie als auch von Kindergarten und Schule auf die Entwicklung und die Schulleistungen von Kindern erfasste, wurde 2005 von Tietze, Rossbach und Grenner vorgelegt. Hier wurde u.a. festgestellt, dass der Kindergarten von geringerer Bedeutung als die Familie ist: Am Ende der Kindergartenzeit werden je nach Kriteriumsvariable 6,3 bis 21,9% der Entwicklungsvarianz durch die Qualität des Familiensettings und nur 3,6 bis 8,4% an zusätzlicher Varianz durch das Kindergartensetting erklärt. Am Ende der zweiten Grundschulklasse war der Anteil an der modellerklärten Varianz, die auf die Familie zurückgeht, rund doppelt so groß wie der Anteil des Kindergartens und der Schule. Zu diesem Zeitpunkt waren die Effekte des Kindergartensettings etwa gleich groß wie die des Grundschulsettings - obwohl zwei Jahre seit Besuch des Kindergartens vergangen waren.
Die kindliche Entwicklung wird in den ersten Lebensjahren auf eine so intensive Weise durch die Familie geprägt, dass die Kinder selbst bei gleicher Intelligenzausstattung und Begabung mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Grundschule kommen. Den Lehrer/innen gelingt es dann nicht, die "benachteiligten" Kinder so zu fördern, dass sie mit den Gleichaltrigen aus "bildungsmächtigen" Familien mithalten können. Vielmehr öffnet sich die "Leistungsschere" zwischen den Schüler/innen mit der Zahl der Schuljahre immer mehr (Krumm 1996): Im Jugendalter sind die Unterschiede im Wissen und Können zwischen Gymnasiast/innen und Hauptschüler/innen bereits sehr stark ausgeprägt.
Allgemein bekannt dürfte inzwischen der Zusammenhang zwischen der "Bildungsschwäche" von Familien und ihrem sozioökonomischen Status sein. Beispielsweise haben die PISA-Studien (z.B. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 2004) ergeben, dass Kinder aus Akademikerfamilien eine viermal größere Abiturchance als Kinder aus Facharbeiterfamilien haben. Selbst Unterschichtkinder mit besten Leistungen bleiben in der Hauptschule. Ausländerkinder haben in Deutschland schlechtere Bildungschancen als in anderen Industrienationen mit einem ähnlichen Ausländeranteil.
Kaum bekannt dürfte aber sein, dass die Familie sogar die Schule ersetzen kann. In den USA findet seit einigen Jahren eine in Deutschland kaum reflektierte Revolution im Bildungsbereich statt: Immer mehr amerikanische Kinder besuchen nicht mehr die Schule, sondern werden von ihren Eltern gebildet. Während 1999 ca. 850.000 Kinder zwischen 5 und 17 Jahren zu Hause "geschult" wurden, waren es 2003 bereits 1,1 Mio. Kinder (National Center for Educational Statistics 2004). Das National Home Education Research Institute geht sogar von schätzungsweise 1,7 bis 2,1 Mio. Kinder für das Schuljahr 2002/2003 aus - bei Zuwachsraten zwischen 7 und 15% pro Jahr (laut www.hslda.org/research/faq.asp#1, 19.10.2005).
Bei diesen hohen Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass es in den USA inzwischen ein ausgeprägtes Unterstützungssystem für "Homeschoolers" gibt. Beispielsweise können Eltern auf für sie entwickelte Unterrichtsmaterialien zurückgreifen, sich Verbänden und Selbsthilfegruppen anschließen und spezielle Ressourcen im Internet nutzen. Bibliotheken, Museen, Unternehmen, Kirchengemeinden, Colleges usw. machen Angebote für sie und ihre Kinder. Inzwischen haben auch nahezu alle Universitäten besondere Aufnahmeverfahren für Jugendliche entwickelt, die keine Schul- bzw. Abschlusszeugnisse vorlegen können.
Kinder bzw. Jugendliche, die von ihren Eltern unterrichtet werden, schneiden laut mehreren Untersuchungen bei Schulleistungstests gleich gut oder sogar besser ab als Gleichaltrige, die eine Schule besuchen (Burns 1999, ERIC Development Team 2001, 2003). Nicht auszuschließen ist hier aber der Einfluss sozioökonomischer Faktoren: Beispielsweise kommen die Kinder bei Homeschooling häufiger aus vollständigen Familien, haben ihre Eltern höhere Bildungsabschlüsse, kümmern sie sich intensiver um ihre Kinder, lassen sie diese weniger fernsehen usw. (Burns 1999). Ein etwa gleich hoher Prozentsatz der Kinder besucht später ein College (ca. 50%), wobei sie in etwa gleich erfolgreich wie Studierende mit einer traditionellen Schullaufbahn sind (ERIC Development Team 2003). Obwohl Kinder bei Homeschooling weniger Kontakte zu Gleichaltrigen haben, scheint ihre soziale Kompetenz nicht schlechter zu sein als die von Schulkindern (Krumm 1996). Zum einen haben sie mehr Kontakt zu Personen unterschiedlichen Alters, zum anderen sind sie zumeist Mitglied in außerschulischen Peergroups.
Konsequenzen für die Politik
In einer durch Globalisierung gekennzeichneten Wissensgesellschaft kann Deutschland nur wettbewerbsfähig bleiben, wenn die kognitiven Ressourcen der erwerbstätigen Generation voll ausgeschöpft werden. Zugleich müssen die Begabungen der nachwachsenden Generation erschlossen werden, müssen die Kinder bestmöglich gefördert werden. Aus den skizzierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die große Bedeutung der Familie ergeben sich in diesem Zusammenhang zwei Konsequenzen:
- Insbesondere während der ersten Lebensjahre der Kinder sollten "bildungsmächtige" Familien gestärkt werden.
- "Bildungsschwache" Familien müssen besonders intensiv unterstützt werden: Einerseits sollten die Eltern Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichen, die Entwicklung ihrer Kinder besser zu fördern. Andererseits sollten für die Kinder kompensatorische Maßnahmen angeboten werden, durch die Entwicklungsverzögerungen frühstmöglich abgebaut werden und eine mangelnde Stimulierung ausgeglichen wird.
Bisher haben sich m.E. Bildungs- und Familienpolitik noch nicht in wünschenswertem Maße mit diesen Herausforderungen befasst und entsprechende politische Ziele formuliert. Aber auch die Kommunalpolitik ist gefragt, da Familien auf der lokalen Ebene am besten erreicht werden können. Generell sollte angestrebt werden, dass seitens Politik, Verwaltung und Wissenschaft flächendeckende Programme entwickelt werden, die der Förderung der Bildungsfunktion von Familien dienen. Diese könnten dann von Familienbildungseinrichtungen, Volkshochschulen, Jugendämtern, Kindertagesstätten, Schulen, Kirchen, Verbänden usw. implementiert werden.
Derzeit setzt die Politik jedoch auf einen Ausbau der Kindertagesbetreuung: Einerseits sollen mehr Angebote für Unterdreijährige gemacht werden, andererseits sollen die Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtungen verlängert und Schulkinder bei Bedarf nachmittags betreut werden, sodass ihre Eltern ganztags erwerbstätig sein können. Die Tendenz geht also in die Richtung, dass Kinder weniger Zeit in der "Bildungseinrichtung" Familie und mehr Zeit in Fremdbetreuung verbringen. Beispielsweise berichtet Hochschild (2002), dass amerikanische Eltern 1996 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche weniger Zeit für ihre Kinder hatten als 1969. Inzwischen wird die "Familienzeit" vermutlich noch weiter abgenommen haben. Ähnliches dürfte auch für Deutschland gelten.
Unerforscht ist bisher geblieben, wie sich diese Verschiebung von der familialen Bildung und Erziehung hin zur öffentlichen auf die allgemeine Entwicklung und auf die Schulleistungen der Kinder auswirkt. Zu vermuten ist, dass erzieherische und bildende Einwirkungen auf das einzelne Kind z.B. in einer Kindergartengruppe mit bis zu 28 Kindern nicht so intensiv sind wie entsprechende Einwirkungen in einer Familie mit zwei oder drei Kindern. So zeigte die zuvor erwähnte Studie von Tietze, Roßbach und Grenner (2005) auf, dass der Einfluss des Kindergartens auf die Entwicklung und die späteren Schulleistungen von Kindern bei weitem nicht so stark ist wie der Einfluss der Familie. Ähnliches dürfte auch für die Schülernachmittagsbetreuung gelten, zumal sie oft von pädagogisch nicht qualifizierten Personen durchgeführt wird.
Eine Herausforderung für die Familienbildung
Derzeit finden Eltern, die ihr pädagogisches Wissen erweitern und ihre Erziehungskompetenzen verbessern wollen - ohne einen Beratungsbedarf zu haben -, relevante Angebote vor allem im Bereich der Familienbildung. Als deren allgemeines Ziel kann die Unterstützung von Familien durch überwiegend bildende Angebote bezeichnet werden. Diese sollen ein partnerschaftliches Miteinander, ein erfolgreiches Erfüllen der Familienfunktionen und ein möglichst problemloses Durchlaufen des Familienzyklus mit seinen Entwicklungsaufgaben ermöglichen (Textor 1996). Unterschieden werden die institutionelle Familienbildung, die überwiegend durch Kurse und Vorträge in Erwachsenenbildungseinrichtungen erfolgt, die informelle Familienbildung, die sich ohne Beteiligung von "Fachleuten" z.B. in Elterninitiativen, Mütterzentren und Selbsthilfegruppen vollzieht, sowie die mediale Familienbildung in der Form von Elternzeitschriften, Erziehungsratgebern und entsprechenden Websites (z.B. www.familienhandbuch.de).
Als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe ist die Familienbildung in § 16 SGB VIII gesetzlich verankert:
(1) Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen sollen Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie angeboten werden. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können. Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.
(2) Leistungen zur Förderung der Erziehung in der Familie sind insbesondere
1. Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisse und Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien in unterschiedlichen Lebenslagen und Erziehungssituationen eingehen, die Familie zur Mitarbeit in Erziehungseinrichtungen und in Formen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe besser befähigen sowie junge Menschen auf Ehe, Partnerschaft und das Zusammenleben mit Kindern vorbereiten, ...
Liest man diesen Paragraphen, fällt zum einen auf, dass die derzeitigen Angebote der Familienbildung weit über die hier genannten Aufgaben hinausgehen, sich also z.B. auch auf die Haushalts-, die Gesunderhaltungs- und die Freizeitfunktion von Familien beziehen. Zum anderen wird überhaupt nicht auf die Bildungsfunktion eingegangen; die Familienerziehung steht eindeutig im Vordergrund. Dieses Manko ist von den Trägern der Familienbildung bisher kaum wahrgenommen worden, und so finden Eltern nur selten Angebote, die sich speziell auf die Förderung der sprachlichen und kognitiven Entwicklung von Kindern, die Weckung von Lesefreude (Literacy), die Vermittlung lernmethodischer Kompetenz, die Stärkung von Leistungsmotivation und Frustrationstoleranz oder die Kooperation mit Kindergarten und Schule beziehen.
So sollte sich die Familienbildung in Zukunft verstärkt auf die Bildungsfunktion von Familien konzentrieren. "Es gilt, vor allem folgende bildungsrelevante Merkmale zu fördern:
- eine qualitativ gute Kommunikation zwischen Eltern und Kindern (also auch bezogen auf Wortschatz, Begriffsverständnis, Komplexität von Sätzen usw.),
- Unterstützung des (Klein-) Kindes bei der Erkundung der Welt und bei der Aufnahme sozialer Beziehungen,
- bildende Aktivitäten in der Familie, z.B. Beschäftigung mit Lernspielen, Vorlesen, Experimentieren, Gespräche über Fernsehfilme, Bücher, naturwissenschaftliche Themen oder politische Ereignisse,
- eine positive Einstellung zu Lernen und Leistung, zu Kindertageseinrichtung, Schule und Berufsausbildung bzw. Studium,
- positive Interaktionen über das, was in der Schule und im Unterricht passiert, Unterstützung bei den Hausaufgaben, ein hohes Anspruchsniveau hinsichtlich Schulleistung und -abschluss,
- ein enger Kontakt zwischen Eltern und Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen, damit erstere wissen, wie sie außerfamilale Bildungs- und Erziehungsbemühungen zu Hause unterstützen können" (Textor 2005, S. 156).
Anbieter von Familienbildung sollten also besondere Kursprogramme entwickeln, die der Stärkung der Bildungsfunktion von Familien dienen. Besonders wichtig sind Angebote, die in den ersten sechs Lebensjahren von Kindern greifen, da dieser Zeitabschnitt für deren weitere (schulische) Entwicklung von größter Bedeutung ist. Zudem sind junge Eltern motivierter, sich mit pädagogischen und kinderpsychologischen Themen zu befassen und sich intensiv ihren Kindern zu widmen. Insbesondere während des Erziehungsurlaubs können sie zudem relativ leicht tagsüber an Angeboten der Familienbildung teilnehmen.
Relevante Veranstaltungen sollten aber auch während der (Grund-) Schulzeit der Kinder angeboten werden. So ist für den Schulerfolg weiterhin von Bedeutung, wie stark ausgeprägt die genannten bildungsrelevanten Merkmale in den Familien sind. Eltern können die Lernleistung ihrer Kinder direkt fördern - viele Möglichkeiten wurden in dem vor kurzem erschienenen Buch "So helfe ich meinem Kind ... beim Lernen" beschrieben (Burnett/Jarvis 2005). Besonders wichtig ist, ob die Schüler/innen beim Erledigen ihrer Hausaufgaben von den Eltern unterstützt werden und inwieweit dies auf eine motivierende Weise geschieht. So wurde inzwischen nachgewiesen, dass Eltern-Kind-Interaktionen im Zusammenhang mit dem Erledigen von Hausaufgaben das Interesse an Bildung auf beiden Seiten fördern und beim Kind zu besseren Schulleistungen führen (Bailey et al. 2004).
Die Angebote der Familienbildung werden derzeit überwiegend von Müttern und Mittelschichtfamilien genutzt (z.B. Schiersmann et al. 1998). Junge Erwachsene sowie "bildungsschwache", sozial benachteiligte und ausländische Eltern werden hingegen nur selten erreicht. So sind seitens der Anbieter von Familienbildung noch größere Anstrengungen als bisher notwendig, um insbesondere die letztgenannten Zielgruppen zu erreichen. Gerade bei ihnen sind Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungsfunktion besonders wichtig, da nach den vorliegenden Untersuchungen viele Kinder aus diesen Familien unzureichend in ihrer Entwicklung gefördert und während ihrer Schullaufbahn unterstützt werden.
Bei Migrantenfamilien reicht es aber nicht, nur auf die Bildungsfunktion positiv einzuwirken. Hier muss auch Interesse am Erlernen und am Verwenden der deutschen Sprache geweckt werden. Den Eltern ist bewusst zu machen, dass ihre Kinder in Deutschland - oder (bei einer Rückkehroption) in ihrem Herkunftsland - nur Erfolg haben werden, wenn sie das Bildungssystem erfolgreich durchlaufen. Zugleich sollten sie motiviert werden, selbst Sprachkurse zu besuchen.
Die Notwendigkeit von Vernetzung und Kooperation
Zielgruppen wie "bildungsschwache", sozial benachteiligte oder Migrantenfamilien können nur sehr begrenzt mit den "klassischen" Methoden der institutionellen und medialen Familienbildung erreicht werden. In den letzten Jahren sind - oft im Rahmen von Modellversuchen - neue Methoden entwickelt worden, um diese Eltern anzusprechen. Dabei wurde in der Regel die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen gesucht. Fünf Projekte sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden.
1. Beispiel: Netzwerk Familienbildung der Stadt Halle
Die fünf Familienbildungsstätten in Halle haben sich mit Beratungsstellen, Kindertageseinrichtungen und sozialen Einrichtungen vernetzt, um Kooperationsmöglichkeiten zu eruieren, Maßnahmen nach § 16 KJHG zu koordinieren und neue Angebote für Familien zu schaffen (Brock 2001). Beispielsweise werden Erzieher/innen als Multiplikator/innen geschult und gemeinsam mit Kindertagesstätten Vortragsveranstaltungen und Aktionen organisiert.
2. Beispiel: Familienbildung in Bremen
Im Bremen wurde mit dem "bremer elternnetz" eine Kontakt- und Koordinierungsstelle beim Deutschen Kinderschutzbund eingerichtet (Freie Hansestadt Bremen/Der Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales 2003). Hier können Eltern - auch per Internet - erfahren, wer was zum Thema Erziehung anbietet, wie viel das Angebot kostet, wo es stattfindet, ob es eine Kinderbetreuung gibt etc. Ferner wird halbjährlich die Broschüre "Erziehung ist (nicht) kinderleicht?!" herausgegeben, die rund 140 Veranstaltungen von 12 verschiedenen Anbietern vorgestellt. Eine Übersicht über für Familien relevante Angebote findet sich auch in der monatlich erscheinenden kostenlosen "Kinderzeitung", die überall im Stadtgebiet ausliegt. Zudem wird mit Hilfe eines "Elternmobils" versucht, Familien in sozialen Brennpunkten direkt anzusprechen.
3. Beispiel: Hammer Elternschule
Die Stadt Hamm (2003) finanziert eine Geschäftsstelle Elternschule, die ein Netzwerk aus rund 30 für Familien relevanten Einrichtungen und Trägern der Jugendhilfe geschaffen hat. Neben der Koordination und Abstimmung von Maßnahmen geht es um die Entwicklung neuer Angebote für Eltern, wobei aufsuchende und stadtteilorientierte Arbeitsformen im Vordergrund stehen: So sucht eine Familienhebamme des Gesundheitsamtes schwangere Frauen - insbesondere aus sozial benachteiligten Bevölkerungskreisen - in ihren Wohnungen auf, um einem eventuell gegebenen gesundheitlichen Risikoverhalten entgegenzuwirken. Sie begleitet die Mütter nach der Entbindung und hilft, Unerfahrenheit und Informationsdefizite auszugleichen. Für Familien mit Kindern unter drei Jahren gründete das Diakonische Werk eine "Aufsuchende Elternhilfe": Besonders geschulte Laien besuchen junge Eltern und alleinerziehende Mütter, um sie zu beraten, zu unterstützen und über weitergehende Hilfen zu informieren. Dabei geht es auch um Fragen der Säuglingspflege und der Erziehung von Kleinkindern. Ferner wurden mehr als 40 Personen als Leiter/innen des Kurses "Starke Eltern - starke Kinder" ausgebildet und führen dieses Programm nun mit interessierten Eltern durch. Dazu gehören auch Multiplikator/innen mit Migrationshintergrund.
4. Beispiel: Maßnahmen zur Behebung der lokalen Erziehungskrise in Gütersloh
Die Stadt Gütersloh (2002) nahm zunächst eine Bestandsaufnahme der Erziehungsprobleme und der relevanten Hilfsangebote vor Ort vor, und zwar durch statistische Analysen und eine Befragung aller Kindertagesstätten, Schulen, Jugendeinrichtungen, Beratungsstellen und sozialen Dienste. Dabei wurden auch deren Handlungsempfehlungen erfasst. Auf dieser Grundlage wurden verschiedene Maßnahmen geplant und realisiert. Dazu gehören ein flächendeckendes Angebot von Elternschulen an allen Kindertagesstätten, die Verbesserung der Elternarbeit in Kindertageseinrichtungen und Schulen - auch durch Qualitätskontrolle -, und eine kampagnenartige "Erziehungsoffensive" in der Öffentlichkeit. An weiterführenden Schulen wurde für die Schüler/innen ein fächerübergreifendes Angebot "Elternschaft und Erziehung" geschaffen.
5. Beispiel: Die Kampagne Erziehung der Stadt Nürnberg
Im Rahmen der "Kampagne Erziehung" (Kammerer 2004) wurden Organisationseinheiten auf sieben operativen Ebenen gebildet: Kindertagesbetreuung, Bezirkssozialarbeit, Schule, Familienbildung, Jugendarbeit, Beratung und "Sonstige". In diesen Netzwerken wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Familienerziehung, zur Ausweitung des Kinderbetreuungsangebots, zum Ausbau von Beratungshilfen und zur stärkeren Berücksichtigung von Familienbelangen in den Sektoren Bildung, Kultur und Freizeit erarbeitet und umgesetzt. Beispielsweise wurde auf der operativen Ebene "Kindertagesbetreuung" ein Konzept für eine zweitägige Fortbildung "Begegnung mit Eltern - Beratung bei Erziehungsfragen" erarbeitet und erprobt, wurden Elternabende zu den Kernbotschaften der Kampagne "Stark durch Erziehung" durchgeführt, wurde ein "Familienbuch" entwickelt, in dem Eltern die Kita-Zeit ihres Kindes dokumentieren können, wurde ein Spielkasten "Eltern für Eltern" konzipiert und wurden Eltern-Kind-Aktionen (z.B. Kletterkurs, Kunstprojekt) initiiert. Diese - sicherlich unvollständige - Auflistung für nur einen Kooperationsbereich lässt erahnen, wie viele Aktivitäten auf allen sieben operativen Ebenen erfolgten und noch erfolgen.
Diese und ähnliche Projekte verdeutlichen, dass "bildungsschwache", sozial benachteiligte und Migrantenfamilien am besten durch aufsuchende und stadtteilorientierte Arbeitsformen, offene Angebote und die Einbindung von Fachkräften bzw. Multiplikator/innen mit Migrationshintergrund erreicht werden können. Allerdings dienen auch hier die meisten Maßnahmen in erster Linie der Verbesserung der Erziehungsfunktion von Familien. Ein bewusster Versuch, auch bildungsrelevante Familienfaktoren positiv zu beeinflussen, unterbleibt zumeist. Ferner wird deutlich, dass die meisten skizzierten Maßnahmen sehr zeit- und arbeitsaufwendig sind; sie können nur in einem Verbund verschiedener Institutionen und (Wohlfahrts-) Verbände geleistet werden.
Viele Projektverantwortliche haben erkannt, dass man alle Familien nur über die Kindertageseinrichtungen und später über die Schulen erreichen kann. So haben sie z.B. Elternkurse an Kindergärten initiiert. Kindertagesstätten sind auch der erste öffentliche Raum, in dem die Entwicklung aller Kinder durch Fachleute überprüft wird. So wird durch den Vergleich mit Gleichaltrigen relativ schnell deutlich, welche Kinder von ihren Eltern unzureichend gefördert werden bzw. welche besonderer kompensatorischer Maßnahmen bedürfen. Diese können entweder von den Erzieher/innen selbst durchgeführt oder von ihnen vermittelt werden. Bei der Umsetzung mancher Maßnahmen könnten durchaus auch Familienbildungseinrichtungen beteiligt werden - beispielsweise wenn eine intensive Schulung elterlicher Kompetenzen als notwendig erachtet wird.
Schlusswort
Wenn Bildungs-, Familien- und Kommunalpolitik die Begabungsressourcen der nachwachsenden Generation ausschöpfen wollen, damit Deutschland auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben und Herausforderungen wie z.B. die Überalterung der Bevölkerung meistern kann, müssen sie die "Bildungsmacht" der Familien stärken. Dies geht nur, wenn mehr Mittel für die Entwicklung von Programmen bereitgestellt werden, mit denen eine Verbesserung bildungsrelevanter Familienfaktoren erreicht werden kann. Anbieter von Familienbildung sind am besten qualifiziert, solche Programme in Kooperation mit Wissenschaftler/innen zu konzipieren.
Konnte der Erfolg dieser Maßnahmen nachgewiesen werden, müsste seitens der Politik die flächendeckende Umsetzung finanziert werden. Da die Durchführung der Programme eine bestimmte Qualifikation der Referent/innen verlangt und zumeist in Kursform erfolgen dürfte, sollte diese Aufgabe vor allem Trägern der Familienbildung übertragen werden. Die Angebote müssten aber zu einem großen Teil außerhalb von Erwachsenenbildungseinrichtungen erfolgen, also z.B. in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Nur so können alle Familien erreicht werden.
Erfolgreiche Familienbildung setzt also die Vernetzung von Familienbildungseinrichtungen, Kinderkrippen, Kindergärten, Tagesmüttern, Jugendämtern, psychosozialen Diensten und anderen Institutionen voraus. Besonders wichtig ist jedoch, dass dieser Bereich seitens der Kommunal-, Familien- und Bildungspolitik finanziell besser ausgestattet wird. Im Gegenzug sollten Politiker/innen aber erwarten dürfen, dass seitens der Anbieter von Familienbildung die Effektivität und Effizienz ihrer Maßnahmen belegt werden...
Quelle
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Literatur
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