Bildungsziele zukunftsorientiert gestalten

Martin R. Textor

 

Beim Generieren unserer Erziehungs- und Bildungsziele sowie bei der Auswahl unserer Erziehungs- und Bildungsmethoden orientieren wir uns weitgehend an der Vergangenheit. Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder so, wie sie selbst erzogen wurden (und laut der 16. Shell-Jugendstudie von 2010 wollen dies fast drei Viertel aller Jugendlichen wieder tun, wenn sie selbst einmal Kinder haben!). Erzieherinnen sind gehalten, sich an von den Bundesländern vorgegebenen Bildungsplänen zu orientieren, die inzwischen mehrere Jahre alt sind. Noch bejahrter sind die meisten Lehrpläne, denen Lehrer ihre Unterrichtsziele entnehmen. Auch der zumeist noch praktizierte Frontalunterricht ist eine Bildungsmethode mit jahrzehntelanger, wenn nicht sogar jahrhundertelanger Tradition.

Aber wollen wir wirklich unsere Kinder auf der Grundlage so alter Vorgaben und Erfahrungen erziehen und bilden? Schließlich leben wir in einer sich rasant wandelnden Welt! Umwelt, Technik, Arbeitswelt, Gesellschaft – alles um uns herum verändert sich immer schneller. Und da sollen tradierte und seit Jahrzehnten wenig modifizierte Erziehungs- und Bildungsmethoden noch tragen?

Meines Erachtens sollten Bildung und Erziehung vielmehr

  1. gegenwartsorientiert sein: Zum einen müssen die aktuellen Bedürfnisse von (Klein-) Kindern und Jugendlichen – nach Sicherheit und Geborgenheit, nach positiven sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen, nach Respekt und Wertschätzung, nach Wissen und Können sowie nach Individualisierung und Selbstverwirklichung – wahrgenommen und deren Befriedigung unterstützt werden. Zum anderen müssen die Lebenssituation der (Klein-) Kinder und Jugendlichen sowie die aus ihrem weiteren Umfeld (z.B. Milieu, Medien, Institutionen) kommenden Einflüsse berücksichtigt werden.
  2. zukunftsorientiert sein: Kindern und Jugendlichen sollten Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt werden, die es ihnen ermöglichen, sich zu beruflich erfolgreichen, sozial integrierten, glücklichen und mit sich selbst zufriedenen Erwachsenen weiterzuentwickeln, die in einer erfüllten Partnerschaft leben und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Das „klassische“ Ziel der Bildung und Erziehung ist der reife und mündige Erwachsene. Bis in das 19. Jahrhundert hinein hieß dies weitgehend, in die „Fußstapfen“ der eigenen Eltern zu treten (z.B. als Junge deren Beruf zu erlernen und deren Hof oder Handwerksbetrieb zu übernehmen oder als Mädchen hauswirtschaftliche Fertigkeiten zu entwickeln). Die beruflichen und hausfraulichen Tätigkeiten veränderten sich im Verlauf der Jahrhunderte nur wenig – auch Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und das politische System blieben weitgehend konstant. Man lebte also als Erwachsener so ähnlich wie die eigenen Eltern gelebt hatten, befand sich in einem vergleichbaren sozialen Kontext.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Mit dem Aufblühen der Demokratie in der westlichen Welt und der industriellen Revolution begann ein technischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Wandel, der immer rasanter wird: Das Wissen nimmt exponentiell zu, neuartige Technologien und neue Produkte werden immer schneller entwickelt, die Wirtschaft wird immer mehr globalisiert, die Weltbevölkerung wächst und wächst, die Bevölkerungsalterung wird zu einem neuen sozialpolitischen Problem, Gesellschaften differenzieren sich weiter aus, immer neue Subkulturen und Milieus entstehen, die Macht des Staates schwindet in einer Welt voller internationaler Verstrickungen und Krisen. Zugleich lassen Klimawandel, Umweltzerstörung, Überbevölkerung und zunehmende Ressourcenknappheit die Grenzen des Wachstums immer deutlicher werden.

Im Gegensatz zu früher werden die Kinder und Jugendlichen von heute als Erwachsene ganz anders leben als die Elterngeneration. Sie müssen also nicht wie in der Vergangenheit auf eine ähnliche, sondern auf eine vollkommen andere Lebens- und Arbeitswelt vorbereitet werden. Dies ist Eltern, Erzieherinnen und Lehrern nur ansatzweise bewusst – und weitestgehend fehlen Vorstellungen von der Welt von morgen, für die sie ja Kinder und Jugendliche erziehen und bilden sollten.

Ein relativ verlässliches Bild von der Arbeits- und Lebenswelt in 10 oder 20 Jahren – also zu einer Zeit, in der die (Klein-) Kinder und Jugendlichen von heute ihre Berufstätigkeit aufnehmen werden – ist nur schwer zu erlangen, da der technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel so rasant verläuft und sich noch weiter beschleunigen wird. Hier sind Eltern, Erzieherinnen und Lehrer überfordert, benötigen sie Informationen von Fachleuten: Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften ist Mitte des 20. Jahrhunderts die Futurologie entstanden, die sich mit der Analyse von Zukunftstrends befasst. Inzwischen gibt es an Universitäten, in internationalen Organisationen, in Wirtschaftsunternehmen, bei Versicherungsgesellschaften und Banken Zukunftsforscher, die eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Studien veröffentlicht haben (vgl. Textor 2010). Bisher sind ihre Erkenntnisse aber erst ansatzweise von der Familien-, Elementar- und Schulpädagogik rezipiert worden. Dementsprechend wurden sie kaum für das Generieren zukunftsorientierter Bildungs- und Erziehungsziele bzw. -methoden genutzt.

Das Wissens- und das Bildungsdelphi

Ausnahmen sind z.B. das Wissens-Delphi von 1996 und das Bildungs-Delphi von 1998 (Prognos AG/Infratest Burke Sozialforschung 1998). Hier wurden mehr als 1.000 Wissenschaftler und Bildungsexperten über die zukünftige Entwicklung des Wissens bzw. über die Konsequenzen für das Bildungswesen befragt, wobei der Zeitraum bis zum Jahr 2020 berücksichtigt werden sollte. Sie forderten, dass Kinder und Jugendliche durch die Vermittlung lernmethodischer Kompetenz befähigt werden müssten, mit der Informations- und Wissensflut zurechtzukommen: „Das bedeutet etwa, möglichst geschickt mit Informationen und Wissen umgehen und das eigene Wissen managen zu können. Oder zu wissen, welche Mengen an Information verarbeitbar sind und sich dann gezielt auf das Nötige zu beschränken. Man sollte wissen, wo Wissen gegebenenfalls verfügbar ist. Und man sollte z.B. in der Lage sein, Auswahlentscheidungen zu treffen und Informationen kritisch zu beurteilen“ (Prognos AG/Infratest Burke Sozialforschung 1998, S. 40). All dies sei nur möglich, wenn Kinder und Jugendliche über Allgemeinwissen verfügen, wobei mit diesem Begriff sowohl Kenntnisse als auch instrumentelle, personale, soziale, interkulturelle und Medienkompetenzen bezeichnet werden. Das Basiswissen sollte weniger nach klassischen Schulfächern und mehr anhand aktueller, komplexer und übergreifender Problemstellungen bzw. Themen unterrichtet werden. Ferner sollten die allgemeinbildenden Schulen auch Kenntnisse aus bisher vernachlässigten Bereichen wie Medizin, Psychologie, Politik, Recht und Wirtschaft vermitteln. Vor allem aber müssten Persönlichkeitsentwicklung und Sozialverhalten gefördert werden.

Zukunftstrends und Bildungsziele

Einen etwas anderen Weg beschreite ich in einem populärwissenschaftlichen Buch (Textor 2012). Direkt aus der Beschreibung von Zukunftsentwicklungen in einem Bereich (wie z.B. technologischer Wandel, Wirtschaft, Arbeitswelt, Gesellschaft oder Familienleben) folgere ich die jeweiligen Kenntnisse und Fähigkeiten, die Kinder und Jugendliche später als Erwachsene benötigen werden. Diese „Kompetenzen für die Welt von morgen“ werden dann in einer Tabelle zusammengefasst, bevor dargestellt wird, wie sie in Familie, Kindertageseinrichtung und Schule vermittelt werden könnten. Dies soll im Folgenden anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden.

Nach verschiedenen Prognosen wird China um das Jahr 2025 herum zur größten und Indien etwa 25 Jahre später zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde werden. Im Jahr 2050 wird mit 3 Mrd. Menschen etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in diesen beiden Ländern leben. Viele von ihnen werden einen hohen Bildungsstand haben und als Wissenschaftler oder Ingenieure tätig sein. Schon jetzt kann es sich das deutsche Schulsystem eigentlich nicht mehr leisten, China und Indien, ihre Sprachen, Geschichte und Kultur zu ignorieren – das wird in Zukunft noch weniger der Fall sein. Ein zukunftsorientiertes Bildungsziel wäre demnach, es zumindest allen Kindern an weiterführenden Schulen zu ermöglichen, Chinesisch oder Hindi zu lernen, und sei es auch nur in einem Wahlfach. Ferner müsste diesen Ländern in Fächern wie Geografie oder Geschichte mindestens ein Viertel der Gesamtunterrichtszeit gewidmet werden.

Natürlich wird es selbst mittelfristig nicht möglich sein, genügend Lehrer für Chinesisch und Hindi in Deutschland auszubilden. Hier müsste das Bildungssystem neue Wege beschreiten und Lehrkräfte aus China und Indien einstellen. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Deutschland wäre für die Lehrer aufgrund der Gehaltsunterschiede auch finanziell attraktiv – und würde sicherlich zumindest von der chinesischen Regierung unterstützt werden, die seit einigen Jahren z.B. über die Konfuzius-Institute das Erlernen der chinesischen Sprache fördert. Bei Verwendung der Immersions-Methode ist es nicht notwendig, dass die chinesischen bzw. indischen Lehrkräfte Deutsch sprechen.

Übrigens: Fachleute ohne deutsches Lehramtsstudium – z.B. Naturwissenschaftler und Ingenieure – wurden bei Bedarf bereits an Schulen angestellt. In Zukunft sollte dies auch für Wirtschaftswissenschaftler gelten. Ein ressourcenarmes Land wie Deutschland ist in hohem Maße von der Leistungsfähigkeit seiner Wirtschaft abhängig, und so sollte an allen Schulen der Wirtschaftskunde eine mindestens genauso große Bedeutung wie den MINT-Fächern zukommen. Da auch hier mittelfristig nicht genügend Lehrer ausgebildet werden können, sollte auf berufserfahrene Manager zurückgegriffen werden – aufgrund der Verschlankung von Hierarchien, des Outsourcing und anderer Rationalisierungsmaßnahmen werden auch in den kommenden Jahren viele Manager arbeitslos werden.

Die Schulkollegien der Zukunft sollten also interkulturell und interdisziplinär zusammengesetzt sein – wie dies auch zunehmend für (Projekt-) Teams in der Wirtschaft gilt. Zu den Mitarbeitern werden vermutlich auch mehr Sozialpädagogen und Psychologen gehören, da zum einen Ganztagsschulen zur Regel werden dürften und zum anderen Schulen vermehrt Erziehungsaufgaben übernehmen müssen, die bisher von den Eltern geleistet wurden. Werden Kleinkinder ganztags (also mindestens acht Stunden lang) in Kindertageseinrichtungen betreut, verbringen sie dort mehr „Wachzeit“ als in ihren Familien. Das gilt wohl nicht für Kinder und Jugendliche an Ganztagsschulen; bedenkt man aber, dass in Zukunft nahezu alle Eltern (Vollzeit) erwerbstätig sein werden und ältere Kinder einen großen Teil ihrer Freizeit zusammen mit Peers oder alleine vor dem Computer bzw. mit anderen Medien verbringen, dann wird auch bei diesen Altersgruppen der erzieherische Einfluss der Familie geringer werden. Erzieherinnen, Lehrer und andere Fachkräfte werden also vermehrt Kindern soziale, personale und emotionale Kompetenzen, friedliche Formen der Konfliktlösung, Umgangsformen und (Tisch-) Sitten, Grundlagen der körperlichen und psychischen Hygiene, Medienkompetenz und sinnvolle Formen der Freizeitgestaltungvermitteln sowie Kindern und Jugendlichen mit durch die Minderleistung ihrer Familien bedingten psychischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten helfen müssen.

Interkulturell und interdisziplinär zusammengesetzte Schulkollegien werden hohe Anforderungen an die Teamfähigkeit und die kommunikativen Fertigkeiten der Mitglieder stellen. Diese Kompetenzen müssen aber auch Kindern und Jugendlichen vermittelt werden, da sie als Erwachsene vermehrt in solchen Teams arbeiten werden. In der sich anbahnenden Wissensgesellschaft werden sich Arbeitnehmer und Selbständige immer weiter spezialisieren müssen. Somit werden sie nur noch in Kooperation mit andersartig qualifizierten Mitarbeitern neue Produkte entwickeln oder Dienstleistungen erbringen können. Schon in der Kindertagesstätte und dann in der Schule sollten deshalb die Kooperations- und Teamfähigkeit von (Klein-) Kindern und Jugendlichen gefördert werden. Im vorschulischen Bereich geht dies am besten im Freispiel, in der Schule bei Partner- und Kleingruppenarbeit. Dementsprechend müsste die bisherige Benotung der Leistung des einzelnen Schülers weitgehend ersetzt werden durch die Bewertung von Gemeinschaftsleistungen.

Schlusswort

Für das zukünftige Leben in einer Wissenschaftsgesellschaft dürfte aber am wichtigsten sein, wenn Kindertageseinrichtungen und Schulen die Lernmotivation der Kinder und Jugendlichen hegen und pflegen – sie ist die wichtigste Voraussetzung für das immer wieder proklamierte lebenslange Lernen. Dies gelingt am besten, wenn Selbstbildung und ko-konstruktive Bildung (insbesondere in Kooperation mit Gleichaltrigen) vorherrschen. Dazu müssen die Kinder und Jugendlichen aber möglichst oft die Lerninhalte selbst wählen können – was nur bei einer stärkeren Individualisierung und Differenzierung der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen bzw. des Unterrichts möglich ist. Erzieherinnen und Lehrer müssten somit von der Rolle der Lehrenden immer mehr in die Rolle von Lern- und Bildungsbegleitern wechseln...

Anmerkung

Eine aktuellere Darstellung der Thematik finden Sie in meinem Buch „Zukunftsorientierte Pädagogik: Erziehen und Bilden für die Welt von morgen“ (Books on Demand, 3. Aufl. 2022), das im Buchhandel und z.B. bei Amazon erhältlich ist.

Quelle

Aus: Thema Jugend. Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung 2012, Heft 2, S. 6-8. Nachdruck mit Genehmigung der Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW e.V.

Literatur

Prognos AG/Infratest Burke Sozialforschung: Delphi-Befragung 1996/1998 „Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft – Auswirkungen auf Bildungsprozesse und Bildungsstrukturen“. Integrierter Abschlussbericht. München/Basel 1998

Textor, Martin R.: Zukunftsentwicklungen: Trends in Technik, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Norderstedt 2010

Textor, M.R.: Zukunftsorientierte Pädagogik: Erziehen und Bilden für die Welt von morgen. Norderstedt 2012