Beratung, Erziehung, Psychotherapie. Eine Begriffsbestimmung

Martin R. Textor

 

Während es in der Praxis bereits eine Vielzahl von Pädagogen gibt, die als Berater oder Psychotherapeuten tätig sind, werden in der Theorie häufig noch Erziehung, Beratung, Psychotherapie und psychiatrische Behandlung als vier höchst unterschiedliche Formen der interpersonalen Einwirkung voneinander getrennt und verschiedenen Wissenschaften zur Erforschung zugewiesen. Auf den folgenden Seiten soll nun auf der Ebene der Begriffsbestimmung untersucht werden, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vier genannten Arten der Einwirkung auf andere Menschen bestehen und inwieweit sie eindeutig bestimmten Wissenschaftszweigen zugeordnet werden können.

Formen der Beratung

Bollnow (1959), Mollenhauer (1965) und Sprey (1968) haben Beratung als eine Form der Einwirkung im erzieherischen Verhältnis beschrieben. Bollnow glaubt im Sinne der Existenzphilosophie, dass sich der innerste Kern im Menschen grundsätzlich jeder geplanten, stetigen Formung durch Erzieher entzieht, da er sich immer nur im Augenblick, im kurzzeitigen Aufschwung auf die existentielle Ebene realisiert. Zu diesem Zeitpunkt, der absichtlich nicht herbeigeführt werden kann und oft als Krise erlebt wird, ist der innere Kern jedoch für "unstetige Formen" der Erziehung wie Erweckung, Ermahnung, Begegnung und Beratung zugänglich. Diese können den Menschen entscheidend prägen und sogar seinen weiteren Lebensweg bestimmen. Im Gegensatz zu den "stetigen Formen" der erzieherischen Einwirkung lassen sie sich doch nicht intendieren und vorausplanen. Zudem sind sie risikoreich, da immer die Möglichkeit des Scheiterns gegeben ist. Der Erzieher muss bereit sein, dem Educandus in diesen Situationen Vertrauen entgegenzubringen und offen über die eigenen Gefühle. Überzeugungen und Werte zu sprechen.

Eine den inneren Kern und die Lebensführung eines Menschen betreffende Beratung kann laut Bollnow Zureden, Besinnung, Warnung, Vorschlag und Aufforderung umfassen. Der Erzieher leitet den Educandus bei der Beurteilung der problematischen Situation an, sucht mit ihm nach Lösungsmöglichkeiten, verdeutlicht die Vor- und Nachteile dieser Alternativen und spricht Empfehlungen aus, überlässt aber dem Zögling die Entscheidung mit allen Konsequenzen. Er übt also keinen autoritären Druck aus, drängt seine Vorstellungen nicht auf, beeinflusst nicht auf entmündigende und manipulierende Weise, sondern erkennt die Freiheit des Educandus an und stellt sich selbstlos in dessen Dienst. Bollnow bemerkt, dass diese Rolle dem Selbstverständnis vieler Erzieher widerspricht, die sich als zielstrebig einwirkende und formende Personen sehen. Auch eignen sie sich oft aufgrund der Stetigkeit und Intimität des langandauernden pädagogischen Bezugs nicht als Berater. So suchen Jugendliche und junge Erwachsene häufig relativ unbekannte, aber vertrauenswürdige. kenntnisreiche und urteilsfähige Personen an Stelle des Erziehers auf, um sich beraten zu lassen. Heute ist jedoch zu beobachten, dass nur noch wenigen Eltern und Lehrern das von Bollnow beschriebene Selbstverständnis zu eigen ist, dass junge Menschen Beratung immer häufiger bei Gleichaltrigen oder in Publikationen suchen.

Laut Mollenhauer (1965) kann "Beratung" "ein 'fruchtbarer Moment' im Erziehungsprozess sein, und zwar sowohl im Hinblick auf die Erziehung und Bildung des einzelnen, seine Selbsterkenntnis und Veränderung, wie auch im Hinblick auf den Prozess selbst: Das Verhältnis des Erziehers zum Heranwachsenden kann sich in solcher Situation von Grund auf verändern, es kann sich hier allererst als persönliches Vertrauensverhältnis konstituieren, es kann die Erziehungsrichtung verändern, die Vorgänge intensivieren" (S. 35). Die in dieser "Ernstsituation" artikulierten Probleme verlangen eine Unterbrechung des Gewohnten und können zu einem Gespräch führen, in dem die schwierige Lebenssituation aus einer gewissen Distanz heraus betrachtet wird und ein rationales Verhalten ihr gegenüber möglich ist. Der Erzieher wird als Person angesprochen; er sollte in dieser Situation kritisch aufklären, informieren, Planungshilfen bieten, die Selbsttätigkeit, Produktivität und Phantasie des Heranwachsenden stimulieren. Ähnlich wie Bollnow hält auch Mollenhauer Beratung nur in einem autoritätsarmen Erziehungsverhältnis für möglich, in dem sich der Educandus nicht unterordnen muss, sondern spontan, selbständig und frei in seinen Entscheidungen sein darf. Nur wer einen demokratischen Erziehungsstil ausübt, werde als Berater akzeptiert. Schließlich betont Mollenhauer (1964, S. 111 f.), dass Beratung auch zwischen Heranwachsenden stattfinden und dabei von erzieherischer Wirkung sein kann.

Im Gegensatz zu Bollnow und Mollenhauer betont Sprey (1968) stärker die Wechselseitigkeit der Einwirkung in der Beratungssituation: Auch der Berater werde beeinflusst und verändere sich. Sein Rat kann nachgesucht oder angeboten werden, vor oder nach einem Handeln erfolgen, direkt oder indirekt sein. Er vermag sich über ein Kontinuum von Hinweis und Vorschlag, Empfehlung, Aufforderung, Bitte und Appell bis hin zur Mahnung erstrecken.

Insgesamt werden vier Funktionen der Beratung von Sprey beschrieben:

  1. Als "erfahrungsorientierte Ordnungshilfe" dient sie dem Einordnen des Beratungsgegenstandes in die Erfahrungen der Person, dem Stabilisieren von Erfahrungsmustern und der Erweiterung des geistigen Horizonts.
  2. Als "reflexionsorientierte Ordnungshilfe" bewirkt Beratung die bewusste und kritische Analyse des Sachverhalts und seines Kontextes.
  3. Der "Entscheidungsförderung" dient Beratung, wenn sie Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, deren Realisierbarkeit überprüft und die beste Alternative bestimmt.
  4. Mit "förderndem Beistehen" sind die Bestätigung der Person des Ratsuchenden, seine Ermutigung und das Zeigen von Zutrauen, Takt und Distanz gemeint.

Daneben erfüllt die Beratung noch propädeutische Funktionen, indem sie zukünftiges Verhalten vorbereitet.

Ähnlich wie Mollenhauer glaubt auch Sprev, dass ein Erzieher nur dann um Rat gebeten wird, wenn sein Erziehungsstil durch Offenheit, abwägende Zurückhaltung und nur schwach ausgeprägte Direktivität gekennzeichnet ist. Er muss dem heranwachsenden Educandus mehr und mehr Eigenständigkeit zugestehen und seine Beziehung zu ihm langsam verändern, so dass Beratung immer mehr an die Stelle von Anordnungen und Belehrungen treten kann. Sprey ist aber auch wie Bollnow der Meinung, dass Jugendliche dennoch oft den pädagogischen Bezug als störend empfinden, den Erzieher als befangen ansehen und Angst vor Nachfragen und Anweisungen haben. Sie nutzen dann die ihnen überlassenen Freiräume, indem sie andere Erwachsene zwecks Beratung aufsuchen. Dabei mag sich ein Beziehungsgefüge konstituieren, das erzieherisch belangvoll ist und als ein "episodisches" pädagogisches Verhältnis bezeichnet werden kann. Wie bei Bollnow wird auch hierzu wenig die Bedeutung der Beratung durch Gleichaltrige gesehen. Zudem werden Jugendliche den "pädagogischen Bezug" nur dann als störend erleben, wenn er wie in der Schule mit Zwängen und Leistungsdruck verbunden ist. Eine andere Situation dürfte jedoch z.B. in von Erwachsenen geleiteten Jugendgruppen gegeben sein. Zusammenfassend können wir an dieser Stelle in Anlehnung an Bollnow, Mollenhauer und Sprey Beratung als den inneren Kern, die Lebensführung und die Probleme des Ratsuchenden betreffende Information, Aufklärung, Ermutigung und Hilfe bezeichnen, die innerhalb eines bestehenden oder episodischen erzieherischen Verhältnisses stattfindet und dieses verändert.

Der beschriebenen Tendenz, relativ unbekannte Erwachsene als Berater auszuwählen, ist man auf Seiten der Schulen durch die Berufung von Beratungslehrern und Schuljugendberatern entgegengekommen. Dabei wurde sicherlich auch die Tatsache berücksichtigt, dass die Unterrichtsangebote allein nicht den vielfältigen Bedürfnissen und Problemen der Schüler gerecht werden können. Zudem entziehen sich viele Lehrer den ihnen übertragenen Erziehungs- und Beratungsaufgaben und beschränken sich auf das Unterrichten und Disziplinieren. Die Rolle des Beratungslehrers wird vom Bayerischen Kultusministerium folgendermaßen definiert: "Der Beratungslehrer hilft im Einvernehmen mit den Lehrern der Klasse den Schülern hei Lern- und Leistungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten, soweit Verfahren und Möglichkeiten hierzu im pädagogischen Bereich liegen. Dazu gehört auch die Beratung der Erziehungsberechtigten in diesen Fragen" (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 19. April 1973 Nr. II/9-8/20 222 "Schulberatung an den Schulen"; zitiert nach: Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen, o.J., S. 26). Gemeinsam mit dem Schuljugendberater ist er zudem für die Schullaufbahnberatung und die Zusammenarbeit mit Schulpsychologen und Erziehungsberatungsstellen verantwortlich. Dabei ist mit Fatke (1980) zu problematisieren, dass sich Beratungslehrer oft nur auf Lern- und Leistungsprobleme konzentrieren, den Schüler für dieselben verantwortlich machen (Stigmatisierung) und so die Notwendigkeit von Verbesserungen in der Schule übersehen. Es besteht zumindest die Gefahr, dass die anderen Lehrer dequalifiziert werden, Problemfälle abschieben, eine notwendige Veränderung des eigenen Verhaltens vermeiden und so folgender Verpflichtung ausweichen: "Die Beratung ist ein Teil der Erziehungsaufgabe; sie hilft dem Schüler. seine Anlagen zu erkennen, seine Fähigkeiten zu nutzen und die gegebenen Bildungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Beratung ist Aufgabe jeder Schule und eines jeden Lehrers" (Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen, o.J., S. 25).

In den USA gibt es bereits seit kurz nach der Jahrhundertwende Berater an schulischen Einrichtungen. Heute arbeiten über 50.000 Pädagogen in diesem Bereich, wobei sie oft von Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern und Krankenschwestern unterstützt werden. Im Gegensatz zu den deutschen Beratungslehrern haben diese Spezialisten zumeist ein mehrjähriges, eigenständiges Studium absolviert, das sowohl Kurse über Psychodiagnostik, Individual-, Gruppen-, Schullaufbahn- und Berufsberatung als auch Praktika umfasst. Es endet gewöhnlich mit der Verleihung des "Master's Degree" und eines staatlichen Zertifikats. An etwa 125 Universitäten kann man sogar im Studienfach "Beratung" promovieren - derartig ausgebildete Berater werden dann oft wie Psychotherapeuten eingesetzt (Gibson & Mitchell 1981).

Während Bollnow, Mollenhauer und Sprey "Beratung" als eine Form der Einwirkung innerhalb eines fortdauernden oder episodischen erzieherischen Verhältnisses sehen, tritt hier "Beratung" in den Mittelpunkt der Beziehung und begründet sie:

  1. "Beratung" wird als eine eigenständige und institutionalisierte Beziehung definiert, die zwischen einem ratsuchenden Klienten (einem Individuum, einer Gruppe oder einer Institution) und einer ratgebenden Person (Berater) entsteht. Sie kann nur aufgebaut werden, wenn sie von ersterem gewünscht wird (Freiwilligkeit). So orientiert sich diese Beziehung ausschließlich an den konkreten Bedürfnissen, Erwartungen und Wünschen des Klienten, der sie auf diese Weise legitimiert und ihren Inhalt und Umfang bestimmt. Er behält immer seine Entscheidungsfreiheit, Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung.
  2. "Beratung" wird nicht nur als ein Prozess der Problemlösung und Entscheidungsfindung gesehen, sondern auch als ein Vorgang. in dem der Berater das Selbst- und Weltverständnis des Klienten fördert (kritische Aufklärung) und die andersartigen Anforderungen neuer Lebenssituationen erhellt. Dieser haut unter Anleitung und mit Hilfe des Beraters sich negativ auswirkende Verhaltensweisen ab und ersetzt sie durch bessere, lernt Anpassungsmechanismen und Konfliktlösungstechniken und schreitet auf diese Weise in Richtung auf die optimale Weiterentwicklung und vollständige Realisierung des eigenen Potentials fort.
  3. "Beratung" wird als solche gekennzeichnet und findet in bestimmten Räumlichkeiten, zu ausgewiesenen Zeitpunkten und nach gewissen Verfahren statt. Zudem ist sie nicht mehr nur ein "fruchtbarer Moment", sondern in der Regel ein mittelfristiger, mehrere Sitzungen umfassender Vorgang.
  4. Schließlich wird "Beratung" als eine Spezialisierung, als ein eigenständiges Arbeitsgebiet angesehen. Es wird verlangt, dass Berater bestimmte Qualifikationen nachweisen können, dass sie in der Technik der Gesprächsführung, in der Verwendung diagnostischer Verfahren und in der Durchführung therapeutischer Maßnahmen ausgebildet sind sowie Kenntnisse in Pädagogik, Psychologie und Soziologie besitzen. Sie sollten auch von ihrer Persönlichkeit und von ihren Fähigkeiten her zur Beratung geeignet sein (vgl. noch Arnold, Eysenck & Meili, 1972; Roth, 1976; Hansen, Stevic & Warner, 1977; Kreft & Mielenz, 1980; Fittkau, 1981; Gibson & Mitchell, 1981; Böhm, 1982).

Während Bollnow, Mollenhauer und Sprey "Beratung" als einen Moment innerhalb eines bereits bestehenden erzieherischen Verhältnisses beschreiben, in ihr eine Form (neben anderen) der pädagogischen Einwirkung zum Erreichen der Erziehungsziele sehen und ihr keine Schulung voraussetzende Techniken wie Ermahnung, Information, Aufklärung und Empfehlung zuordnen, entsteht hier die Beziehung erst aufgrund des Wunsches des Klienten nach Beratung, orientiert sich hinsichtlich der Beratungsziele an der Bitte zugrundeliegenden Problemen und endet, sobald der Wunsch erfüllt ist. Zudem ist diese Form der Beratung durch Institutionalisierung und Professionalisierung sowie die Verwendung diagnostischer Verfahren und vieler im Bereich der Psychotherapie entwickelten Techniken gekennzeichnet.

Erziehung und Beratung

Brezinka (1971) vertritt ebenfalls einen Erziehungsbegriff, der Beratung, aber auch Psychotherapie, Psychagogik und Sozialarbeit ganz oder größtenteils in seinen definitorischen Bereich einbezieht: "Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen mit psychischen und (oder) sozial-kulturellen Mitteln in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten" (S. 613). Erziehung (einschließlich Beratung und Psychotherapie) richtet sich auf die Persönlichkeit des Individuums, auf die seinem Erleben und Verhalten zugrundeliegenden psychischen Bereitschaften wie Kenntnisse, Einstellungen, Gefühle, Fähigkeiten usw. Die an bestimmten Zielen und Normen ausgerichtete Erziehung soll Lernvorgänge bewirken, die dieses Dispositionsgefüge in seinem Wert steigern. Dabei sollen 1) als positiv beurteilte vorhandene (angeborene und erworbene) Dispositionen ausgebaut und stabilisiert werden, 2) neue wertvolle Dispositionen geschaffen und 3) als schädlich erkannte vorhandene Dispositionen beseitigt oder geschwächt werden. Erzieherische (beratende und psychotherapeutische) Handlungen erfolgen laut Brezinka zumeist in Intervallen und bilden in der Regel ein langwährendes Handlungssystem. Ihre Adressaten können Individuen jeden Lebensalters sein, da sie immer lernen, umlernen und verlernen. Und jede beliebige Person kann als Erzieher wirken, wenn sie die Persönlichkeit anderer Menschen positiv verändert.

Immer wenn man "Erziehung" als bewusst geplante Stimulierung und Steuerung von Lernprozessen, als durch direkte Einwirkungen oder modellhaftes Handeln versuchte Entfaltung und Modifikation bestimmter Verhaltensweisen oder als beabsichtigte Beeinflussung der Personwerdung versteht, also einen Erziehungsbegriff mittlerer Reichweite (z.B. Groothoff, 1973; Asanger & Wenninger, 1980; Fatke, 1980; Wallner & Funke-Schmitt-Rink, 1980) vertritt, lässt sich Beratung als eine Form von Erziehung definieren. Das gleiche trifft zu, wenn man mit "Erziehung" die Gesamtheit aller möglichen (also nicht nur der intendierten) Hilfen zur Menschwerdung meint. Hier wird davon ausgegangen, dass die Gesellschaft soziokulturelle Normen, Rollenmuster, Symbolsysteme, Denkweisen und Kulturfertigkeiten vermittelt, um auf der einen Seite die Anlagen des Individuums zu entfalten, es handlungsfähig und mündig zu machen und um auf der anderen Seite dasselbe in die Gemeinschaft einzugliedern und anderen Fortentwicklung zu beteiligen. Dieses geschieht in lebenslang andauernden, naturhaft ablaufenden oder geplanten Erziehungsprozessen, aber auch durch die Einwirkung von Technik und Kunst, Institutionen und Gruppen, politischen Strukturen und sozioökonomischen Verhältnissen. Natürlich fallen auch Beratung und Psychotherapie unter einen derartig weiten, auf die Eingliederung in Gesellschaft (Sozialisation) und Kultur (Enkulturation) bezogenen Erziehungsbegriff (z.B. Mollenhauer, 1965; Rombach, 1970; Groothoff, 1973; Wehle, 1973; Wallner & Funke-Schmitt-Rink, 1979), da sie ebenfalls die Entwicklung einer autonomen und gefestigten Persönlichkeit, die Integration in soziale Rollen, die Anpassung an soziokulturelle Normen und die Befähigung zur Weiterentwicklung der Gesellschaft anzielen.

Nur wenn man einen engen, am pädagogischen Bezug orientierten Erziehungsbegriff (z.B. Litt, 1949; Spranger, 1958, 1962; Frischeisen-Köhler, 1962; Flitner, 1966; Nohl, 1970; Schleiermacher, 1970; Dilthey, 1971; Groothoff, 1973; Böttcher, 1975; Klafki, 1975; Lassahn, 1976) vertritt, muss man zwischen Erziehung und mit dem durch Institutionalisierung und Professionalisierung gekennzeichneten Beratungsbegriff unterscheiden. Beide Konzepte ähneln sich noch darin, dass 1) jedes Mal von der Bedürftigkeit und Veränderbarkeit einer Person (Educandus bzw. Klient) ausgegangen wird; 2) diese mit Absicht und entsprechend ähnlicher Ziele von einer anderen Person (Erzieher bzw. Berater) beeinflusst wird; 3) die Einwirkung in einer vorläufigen, sich wandelnden Beziehung erfolgt, die durch Intimität, Vertrauen, Offenheit, Authentizität und Personalität gekennzeichnet ist; 4) die intervenierende Person der anderen in vielerlei Hinsicht überlegen ist; 5) ähnliche, psychologisch fundierte Methoden bei der Einflussnahme verwendet werden.

Hingegen unterscheiden sich Erziehung i.e.S. und Beratung insofern, dass 1) einerseits der Erzieher nahezu alle Erziehungsziele, andererseits aber der Klient die meisten Beratungsziele aufstellt und erstere gewöhnlich allgemeiner und umfassender als letztere sind; 2) das Erziehungsverhältnis in der Regel länger als die Beratung dauert, auf der einen Seite der pädagogische Bezug, auf der anderen Seite das Problem im Mittelpunkt steht; 3) der Erzieher am Unmündigen handelt, Gehorsam fordert und die Inhalte der Beziehung bestimmt, gleichzeitig aber als "Anwalt des Kindes" dessen Selbstzweck und Recht auf Selbstfindung, Selbstentfaltung und Individuation vertritt, es also als eine im Werden begriffene Persönlichkeit mit allen ihren Möglichkeiten ernstnimmt, während der Berater den Klienten als gleichberechtigt und eigenverantwortlich ansieht, sich zurückhält und dem Ratsuchenden die Führung überlässt; 4) der Educandus immer ein Kind oder ein Jugendlicher ist, dem der Erzieher aufgrund von Alter und Erfahrung überlegen ist, während Berater und Klient gleichaltrig sein können und ersterer wegen seiner Qualifikation aufgesucht wird; 5) der Erzieher in der Regel auf die gesamte Existenz des Educandus mit "common-sense"-Methoden einwirkt und dabei relativ autoritär und belehrend ist, während der Berater bestimmte Persönlichkeits- und Lebensbereiche des Klienten für seine technisch höher entwickelten Interventionen auswählt und in einem viel geringeren Ausmaße lenkt und kontrolliert.

Jedoch wird dieser Erziehungsbegriff durch definitorische Elemente wie Intentionalität und Personalität, die Bindung an eine langfristige intensive Beziehung und die Betonung der wechselseitigen Liebe und Hingabe so stark eingegrenzt, dass mit ihm nur noch wenige Interaktionen zwischen älteren und jüngeren Menschen, Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern bezeichnet werden können. Überprüft man z.B. diesen Begriff an der schulischen Realität, so fällt auf, dass an den meisten Schulen derartig enge und intime Ich-Du-Beziehungen nicht ausgebildet werden können, da (Fach-) Lehrer ihre Schüler nur für zwei bis sechs Wochenstunden sehen, fast jedes Jahr neue Klassen erhalten, nur selten persönliche Gespräche mit Schülern führen können, kaum Interesse an erzieherischen Tätigkeiten haben und oft nicht bereit sind, als Vorbild zu wirken und eigene Einstellungen zu vertreten. So lässt sich unserer Meinung nach mit einem derartig engen Erziehungsbegriff nicht eine Wissenschaft von der Erziehung konstituieren. Deshalb müssen pädagogische Theorien, Schultheorien usw. auf umfassendere Erziehungskonzepte wie die bereits dargestellten gegründet werden. Wir werden im folgenden Erziehung i.e.S. und Beratung einer durch den Erziehungsbegriff mittlerer Reichweite (s.o.) konstituierten Pädagogik zuordnen.

Beratung in Sozialpädagogik/Sozialarbeit

Beratung findet aber nicht nur im erzieherischen Verhältnis oder durch professionalisierte Berater an Schulen statt, sondern auch im Bereich der Sozialpädagogik/ Sozialarbeit, dem "dritten pädagogischen Ort neben Familie und Schule" (Mollenhauer). Dieser Begriff bezieht sich auf die qualifizierte, berufsmäßige Betreuung von Individuen oder Gruppenmitgliedern, die unter körperlichen oder altersspezifischen Gebrechen, intra- oder interpersonalen Problemen (Rollen-, Generationen-, Ehekonflikte usw.), Verwahrlosung, Entwicklungshemmung, Anpassungsschwierigkeiten oder sozialer Benachteiligung leiden bzw. durch diese bedroht sind. Sozialpädagogen wollen die ganzheitliche Entfaltung ihrer Klienten fördern, Autonomie und Ich-Integrität aufbauen, gefährdete Personen vor den schädigenden Einflüssen ihrer Umwelt schützen, benachteiligte Gruppen zur Selbsthilfe befähigen und gestörte oder auffällig gewordene Individuen resozialisieren. Dabei streben sie nicht nur die bloße Anpassung und gesellschaftliche Integration ihrer Klienten an, sondern auch deren Emanzipation (Entwicklung eines kritischen Bewusstseins) und die Veränderung sich negativ auswirkender Faktoren im Wohnumfeld, in Gemeinde, Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Mollenhauer, 1964; Rünger, 1964; Groothoff, 1973; Wehle, 1973; Roth, 1976; Kreft & Mielenz, 1980).

"Die sozialpädagogische Praxis geschieht in einem Spannungsfeld zwischen dem als normal Geltenden und den vielen Formen von Abweichungen bis hin zur juristisch definierten Kriminalität. Sie will das 'Normale' stützen und fördern, den Abweichungen vorbeugen und, sofern das mit pädagogischen Mitteln zu leisten ist, die eingetretenen Schäden aufheben" (Mollenhauer, in Groothoff 1973, S. 294). Dementsprechend möchte ich mit Böttcher (1975) drei Methodenbereiche innerhalb der Sozialarbeit unterscheiden:

  1. Methoden, die der Förderung einer optimalen Situation des Klientsystems (d.h. einer Einzelperson, einer Gruppe, einer Organisation, eines Gemeinwesens oder eines sozialen Großgebildes) dienen, wie bildende und unterrichtende Tätigkeiten, Diskussionen und Aussprachen.
  2. Methoden, die von einem durchschnittlich-normalen zu einem optimalen Zustand beim Klientsystem führen sollen, wie Beratung und Nacherziehung, Aufklärung (Öffentlichkeitsarbeit) und Planung, Prävention und Veränderung von Erziehungsbedingungen.
  3. Methoden, die ein normales Funktionieren des Klientsystems herstellen sollen, wie Diagnose und Psychotherapie, Resozialisation und Rehabilitation, Fürsorge und materielle Hilfeleistungen.

Es ist offensichtlich, dass diese drei Methodenbereiche den von Brezinka (1971) genannten und bereits erwähnten drei Zielen bzw. Aufgaben der Erziehung entsprechen.

Nahezu in allen ihren Arbeitsbereichen führen Sozialpädagogen Beratungen, vereinzelt aber auch psychotherapeutische Behandlungen, durch - in der Einzelfallhilfe und in der Gruppenarbeit, in Vorschulerziehung und Jugendarbeit, Familienfürsorge und Jugendhilfe, Erziehungsbeistandschaft und Vormundschaft, Psychiatrie und Gemeinwesenarbeit sowie in der Betreuung von Gastarbeitern, Straffälligen und Suchtkranken. Dabei verwenden Sozialpädagogen einen klinisch orientierten Beratungsbegriff, der um die Aspekte der Prophylaxe und der Krisenintervention ergänzt wurde. Oft sprechen sie auch von Sozialtherapie, womit "1. auf die Ursachen einer Problematik und auf ihren biographischen und aktuellen Kontext, 2. auf ein Behandlungsziel (soziales Verhalten und Schaffung einer günstigeren Lebenssituation) und 3. auf Behandlungsverfahren unter Einbeziehung sozialer Faktoren ('Milieu', Bezugsgruppen, change agents) hingewiesen" wird (Asanger & Wenninger 1980, S. 453). Demnach untersuchen Sozialarbeiter die soziale Genese von (zumeist interpersonalen) Konflikten und Problemen. Anschließend versuchen sie, diese durch die Einwirkung auf Beziehungsgefüge und gesellschaftliche Systeme sowie durch die Beeinflussung von Sozialisationsprozessen zu beheben (vgl. Mollenhauer, 1964, 1965; Roth, 1976; Kreft & Mielenz, 1980).

Sozialarbeiter wirken jedoch nicht nur in "beratungsreichen Erziehungsfeldern" (Mollenhauer), sondern auch in der institutionalisierten Beratung. So dient die Erziehungsberatung der Untersuchung, Förderung und Behandlung erziehungsschwieriger, entwicklungsgehemmter oder auffälliger Kinder sowie der Anleitung ihrer Eltern und Lehrer. Dabei werden die Ursachen von Problemen aufgedeckt, Störungen beseitigt und weiteren Fehlentwicklungen vorgebeugt (Prophylaxe). Zudem soll die familiäre und außerfamiliäre Erziehungssituation verbessert werden.

"Es wird eine Konsultation angestrebt, in deren Verlauf die relevanten pädagogischen Bezugspersonen den Anteil erkennen, den sie selbst zur Entstehung und Verschärfung des Problems beigetragen haben, sowie denjenigen Anteil. den sie mit ihren Einwirkungsmöglichkeiten zur Behebung des Problems beisteuern können" (Fatke, 1980, S. 749). So sollen die Erzieher eigene Fehleinstellungen korrigieren, Konflikte abbauen und Techniken zur Bewältigung zukünftiger Probleme lernen (Prävention) (vgl. Mollenhauer, 1964, 1965; Rombach, 1970; Fatke, 1980; Pongratz, 1980).

Was an Erziehungsberatungsstellen geschieht, lässt sich nur zum Teil als "Beratung" klassifizieren. So ist seit mehreren Jahrzehnten zu beobachten, dass dort psychotherapeutische Verfahren immer häufiger angewandt werden. Und während sich Sozialarbeiter früher vor allem auf Anamnese, Elternberatung und Sozialtherapie beschränkten, führen sie heute zumeist alle Formen der Beratung und Therapie selbständig und eigenverantwortlich durch. Dabei verwenden sie genauso wie in der Erziehungsberatung tätige Psychologen, Pädagogen, Ärzte und Psychiater vermehrt familientherapeutische Ansätze - ja einige Beratungsstellen wie beispielsweise die Städtische Jugend- und Familienberatung Erlangen führen nur noch Familienbehandlungen durch (Gerlicher, 1977). Auch müssen viele Sozialpädagogen Eheprobleme und Störungen im Sexualbereich therapieren (vgl. Rünger, 1964; Kreft & Mielenz, 1980; Schubert & Scheulen-Schubert, 1981).

Beratung und Psychotherapie

Da neben Sozialarbeitern auch Psychagogen und Heilpädagogen (Sonderschullehrer) therapeutisch tätig sind, ist es an dieser Stelle sinnvoll, den Begriff Psychotherapie genauer zu bestimmen. Er bezeichnet eine auf Vertrauen beruhende enge Beziehung zwischen einem oder mehreren hilfsbedürftigen Menschen (den Klienten) und einer durch ihre Ausbildung und Erfahrung qualifizierten Person (dem Therapeuten), die warm, authentisch, freundlich und verständnisvoll ist. Der Therapeut bestimmt mit Hilfe diagnostischer Verfahren (Beobachtungen, Tests) die zu behandelnden abnormen psychischen Zustände, Verhaltensstörungen, psychosomatischen Erkrankungen und interpersonalen Konflikte. Dann versucht er, diese durch bewusst geplante Interventionen wie Selbstbestätigung, Interpretation, Realitätstesten, Suggestion, Modelllernen, sukzessive Approximation, das Anbieten von Übungssituationen und das Bewusstmachen von Übertragungsvorgängen usw. zu beheben oder zu lindern. Zugleich möchte er die persönliche Weiterentwicklung der Klienten fördern. Die zur Veränderung des Verhaltens und Erlebens angewandten Methoden sollten auf der Grundlage von wissenschaftlich gesicherten psychologischen oder psychotherapeutischen Theorien beruhen. Ihre Wirkung ist immer wieder vom Therapeuten zu überprüfen (vgl. Arnold, Eysenck & Meili, 1972; Drever & Fröhlich, 1972; Höpel, 1975; Roth, 1976; Ansgar & Wenninger, 1980; Pongratz, 1980; Thiele, 1980; Böhm, 1982).

Vergleicht man diese Definition von "Psychotherapie" mit unserer Begriffsbestimmung von "Beratung", so fallen sofort Ähnlichkeiten und Überschneidungen auf. Dementsprechend hängt es oft mehr von der Qualifikation, der beruflichen Position oder dem Selbstverständnis als von der jeweiligen Tätigkeit ab, ob sich jemand "Berater" oder "Therapeut" nennt (Höpel, 1975; Schubert & Scheulen-Schubert, 1981). Dennoch sind uns einige Unterschiede aufgefallen: 1) Die Patienten von Psychotherapeuten sind zumeist stärker gestört und damit hilfsbedürftiger als die Klienten von Beratern. Erstere leiden häufig unter Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, psychosomatischen Erkrankungen, Delinquenz oder Suchtkrankheiten, während letztere in der Regel "normal" sind und nur Informationen benötigen oder aufgrund von interpersonalen, Rollen- oder Wertkonflikten um Hilfe nachsuchen. 2) Eine psychotherapeutische Behandlung dauert im Allgemeinen länger und umfasst oft eine eigenständige diagnostische Phase. Zudem findet sie häufiger in Krankenhäusern‚ Heimen oder Entziehungsanstalten statt. 3) Der Psychotherapeut bestimmt in vielen Fällen die meisten Behandlungsziele anhand seiner Vorstellungen über Gesundheit, greift mehr in das Leben der Klienten ein und übernimmt vielfach ein größeres Maß an Verantwortung für sie. Besonders bei einer Behandlung im Krankenhaus oder Heim werden deren Entscheidungsfreiheit und Selbständigkeit eingeschränkt. 4) Die Interaktionen zwischen Psychotherapeut und Klient sind zumeist intensiver und werden mehr durch Emotionen (z.B. Übertragung) bestimmt. Auch muss der Therapeut mehr mit Widerständen und Abwehrmechanismen rechnen. 5) Der Psychotherapeut setzt noch höher entwickelte Techniken als der Berater ein, die oft eine intensive Schulung voraussetzen, an Indikationen gebunden sind, lange vorbereitet werden müssen und sehr komplex sind. 6) Da die Anforderungen an den Therapeuten höher sind, muss er in der Regel eine längere Ausbildung absolvieren als ein Berater. Allerdings kann hier eine größere Berufserfahrung ausgleichend wirken.

Exkurs: Zum Verhältnis von Pädagogik und Psychologie

Obwohl viele (Sozial-) Pädagogen Beratungen und psychotherapeutische Behandlungen durchführen, werden diese Praxisfelder doch häufig der Psychologie zugeordnet - nicht nur, weil die meisten Psychologen Beratung und Therapie als ihre Arbeitsbereiche beanspruchen, sondern auch, weil psychologische Theorien deren Grundlage bilden. Diese Zuordnung ist meines Erachtens jedoch nicht gerechtfertigt, da die Psychologie auch der Pädagogik und Sozialarbeit als Fundament dient. So sind die meisten Pädagogen der Meinung, dass eine praxisorientierte Erziehungswissenschaft nicht ohne eine Grundlegung u.a. durch die Psychologie auskommen kann. Beispielsweise baute Pestalozzi seinen Unterricht auf psychologischen Methoden auf, während Trapp versuchte, die empirische Psychologie zur systematischen Grundlage seiner Pädagogik zu machen. Herbart verlangte von der Psychologie Aufklärung über den Weg zum gebildeten Menschen, die vom Erzieher einzusetzenden Mittel und die von ihm zu bewältigenden Hindernisse, während Dilthey von ihr Erkenntnisse über das Seelenleben des Educandus und dessen Beeinflussung erwartete.

Heute beruht die Pädagogik auf Wissensbeständen aus nachstehenden Bereichen der Psychologie: Allgemeine Psychologie (hinsichtlich Wahrnehmung, Lernen, Denken, Emotionen usw.), Lernpsychologie (einschließlich Erbe-Umwelt-Problematik, Intelligenz, Motivation), Sozialpsychologie (Kommunikation, Gruppendynamik, Normen, Sozialisation), Persönlichkeitspsychologie, Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie (vgl. Groothoff, 1973; Hermann, 1976; Lassahn, 1976; Asanger & Wenninger, 1980).

Pädagogik

Sozialarbeit

Klinische Psychologie

Pädagogische Psychologie - Entwicklungspsychologie - Sozialpsychologie - Persönlichkeitspsychologie - Allgemeine Psychologie - Lernpsychologie

Abbildung 1: Die Grundlegung von Erziehung, Beratung und Psychotherapie

Diese Bereiche der Psychologie (Grundlagenforschung) bilden das Fundament für Pädagogik, Sozialarbeit und Klinische Psychologie (angewandte Wissenschaften), für Erziehung, Beratung und Psychotherapie (siehe Abbildung 1). Auf beiden Ebenen gibt es Wissenschaftler, die nach Erklärungen und Gesetzmäßigkeiten suchen (der allgemeine Fall). Aber nur auf der zweiten Ebene gibt es Sozialarbeiter, Psychologen und Pädagogen, die als Berater, Psychotherapeuten oder Erzieher auf einzigartige Personen in immer wieder unterschiedlichen Kontexten einwirken (der besondere Fall). Sie müssen für ihr Handeln vor sich selbst, ihren Klienten (Zöglingen) und der Gesellschaft Rechenschaft ablegen.

Psychiatrische Behandlung

Neben Erziehung, Beratung und Psychotherapie ist die psychiatrische Behandlung eine weitere Form interpersonaler Einwirkungen. Sie dient der Erfassung, Klassifikation und Heilung seelischer Krankheiten. Während Psychotherapeuten eine psychosoziale Verursachung von psychischen Problemen (einschließlich Neurosen) und Verhaltensstörungen annehmen, glauben Psychiater, dass krankhafte Seelenzustände (vor allem Psychosen) auf neurologischen, chemisch-physikalischen oder körperlichen Defekten, auf Gehirnerkrankungen oder Verletzungen beruhen, also sehr viel schwerer zu heilen sind. Dementsprechend wirken erstere auf ihre Klienten mit psychosozialen Techniken ein und überlassen ihnen den größten Teil der Verantwortung für die Lösung ihrer Konflikte und die Veränderung ihres Verhaltens. Hingegen machen letztere von Medikamenten (Psychopharmaka) und chirurgischen Eingriffen Gebrauch, unterstützt durch psychotherapeutische, heilpädagogische und soziale Maßnahmen. Zudem legen sie größeren Wert auf die genaue Bestimmung des Krankheitsbildes (differentielle Diagnose), wobei Verfahren wie medizinische Untersuchung, psychologische Tests und Beobachtung eingesetzt werden.

Während Psychotherapeut und Klient einander als gleichberechtigt begegnen und eine intensive, durch Emotionen und Verständnis geprägte Beziehung aufbauen, nimmt der Psychiater gegenüber dem Patienten in der Regel eine Machtposition ein. Er bestimmt die Behandlungsziele nach dem medizinischen Modell ("Heilung", Resozialisierung), übernimmt die Verantwortung für den Patienten und dessen Gesundung, definiert die Beziehung zu ihm (meist gewisse Distanz) und verlangt dessen Gehorsam. Insbesondere bei einer Hospitalisierung oder Institutionalisierung kann es sogar zu einer Art Entmündigung des Patienten kommen, der über die Art der Behandlung nicht entscheiden kann, abhängig und unselbständig ist sowie den Zwängen des Krankenhauses oder Heims unterliegt. Anzumerken ist, dass wir uns bei dieser knappen Darstellung auf das medizinische Modell beschränkt haben. Jedoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass viele - z.B. Szasz, Keupp, Laing, Lippitt und Basaglia - dieses Modell ablehnen und wie Psychotherapeuten einer psychosozialen Orientierung folgen (vgl. Arnold, Eysenck & Meili, 1972; Dreyer & Fröhlich, 1972; Thiele, 1980).

Ein Kontinuum interpersonaler Einwirkung

An dieser Stelle wollen wir noch einmal auf Brezinkas (1971) Klassifikation erzieherischer Aufgaben und auf Böttchers (1975) Unterscheidung sozialpädagogischer Tätigkeiten verweisen. Auf dieser Grundlage können wir nämlich Erziehung i.e.S., Beratung, Psychotherapie und psychiatrische Behandlung entlang eines Kontinuums anordnen (siehe Abbildung 2). Dabei verwenden wir als Kriterium die fließend ineinander übergehenden Aufgaben und Tätigkeiten (linke Spalte) der entsprechenden Berufsgruppen. Wir erhalten das gleiche Kontinuum, wenn wir als Kriterium den Grad an Normalität (rechte Spalte) der zu beeinflussenden Personen nehmen. Dasselbe gilt, wenn wir eine Unterscheidung nach dem Grad der Professionalisierung von Erziehern, Beratern, Psychotherapeuten und Psychiatern vornehmen.

Beseitigung schädlicher Dispositionen


Schaffung neuer, wertvoller Dispositionen


Förderung wertvoller Dispositionen

Psychiatrische Behandlung

 

Psychotherapie

 

Beratung

 

Erziehung

Psychisch kranke Menschen

Psychisch oder verhaltensgestörte Menschen

Menschen mit persönlichen Problemen

Psychisch "gesunde" Menschen

Abbildung 2: Ein Kontinuum zwischenmenschlicher Einwirkungen

Als wir Beratung und Psychotherapie als Formen erzieherischer Einwirkung entsprechend der weiten Erziehungsbegriffe definierten, wollten wir sie natürlich nicht ausschließlich der Pädagogik oder Sozialpädagogik/ Sozialarbeit zuordnen. So ist es sinnvoll, die vier genannten Arten der interpersonalen Einwirkung in Relation zu den erwähnten Wissenschaftsbereichen darzustellen. Nachdem im vorhergehenden Text bereits Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vier Formen herausgearbeitet wurden, fallen jetzt die Überschneidungen ins Auge. So machen Pädagogen von Erziehung, aber auch von Beratung Gebrauch, ja vereinzelt wird ein geschulter Erzieher auch therapeutische Techniken bei schwierigen Kindern einsetzen. Sozialarbeiter verwenden in ihren Tätigkeitsfeldern auch Erziehungs- und Therapietechniken, während Klinische Psychologen und Kinderpsychiater gegenüber gestörten bzw. psychisch kranken Kindern vielfach von Erziehung und Beratung (also nicht nur von Psychotherapie und psychiatrischer Behandlung) Gebrauch machen.

Dieses verdeutlicht die fließenden Übergänge zwischen den vier Formen der interpersonalen Einwirkung. Keiner der genannten Wissenschaftsbereiche kann eine dieser Arten der interpersonalen Einwirkung allein für sich beanspruchen. Vielmehr können theoretisch tätige Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater jede dieser Formen erforschen, können praktisch tätige - prinzipiell - jede Form anwenden. Daraus ist nicht nur die Notwendigkeit einer vermehrten interdisziplinären Zusammenarbeit zu folgern, sondern Theoretiker und Praktiker aus diesen vier Wissenschaftsbereichen sollten auch vermehrt ihr Repertoire an Fragestellungen, Hypothesen, Konzepten und Techniken um solche aus den anderen drei Bereichen erweitern.

Quelle

Aus: Psychologie in Erziehung und Unterricht 1987, 34, S. 1-13 (ohne Tabellen)

Literatur

Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen (o.J.). Fortbildung von Lehrern aller Schularten zu Beratungslehrern. Ein Modellversuch. Donauwörth: Auer.

Arnold, W., Eysenck, H. J. & Meili, R. (Hrsg.) (1972). Lexikon der Psychologie. Bd. 1-3. Freiburg/ Basel/ Wien: Herder.

Asanger, R. & Wenningcr, G. (Hrsg.) (1980). Handwörterbuch der Psychologie. Weinheim/ Basel: Beltz.

Böhm, W. (1982). Wörterbuch der Pädagogik. (12. neuverf. Aufl.). Stuttgart: Kröner.

Böttcher, H. (1975). Sozialpädagogik im Überblick. Versuch einer systematischen Agogik. Freiburg/ Basel/ Wien: Herder.

Bollnow, O. F. (1959). Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer.

Brezinka, W. (1971). Über Erziehungsbegriffe. Eine kritische Analyse und ein Explikationsvorschlag. Zeitschrift für Pädagogik, 17, 567-615.

Dilthey, W. (1971). Schriften zur Pädagogik. Paderborn: Schöningh.

Dreyer, J. & Fröhlich, W. D. (1972). dtv-Wörterbuch zur Psychologie (6. Aufl.). München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Fatke, R. (1980). Psychohygiene und Pädagogik. In W. Spiel (Hrsg.), Konsequenzen für die Pädagogik (2). Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 12. Zürich: Kindler.

Fittkau, B. (1981). Gruppendynamische und therapeutische Verfahren. In E. Kerkhoff (Hrsg.), Handbuch Praxis der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Bd. 2. Düsseldorf: Schwann.

Flitner, W. (1966). Allgemeine Pädagogik (11. Aufl.). Stuttgart: Klett.

Frischeisen-Köhler, M. (1962). Philosophie und Pädagogik (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.

Gerlicher, K. (1977). Familientherapie in der Praxis der "Städtischen Jugend- und Familienberatung Erlangen". In Gerlicher, K. et al. (Hrsg.), Familientherapie in der Erziehungsberatung. Weinheim/ Basel: Beltz.

Gibson, R. L. & Mitchell, M. H. (1981). Introduction to Guidance. New York/ London: MacMillan.

Groothoff, H.-H. (Hrsg.) (1973). Das Fischer Lexikon Pädagogik. Frankfurt: Fischer.

Hansen, J. C., Stevic, R. R. & Warner, R. W., Jr. (1977). Counseling. Theory and Practice (2. Aufl.). Boston: Allyn & Bacon.

Hermann, U. (1976). Die Rolle der Psychologie in der Entwicklung der modernen Erziehungswissenschaft. In H. Balmer (Hrsg.), Die Europäische Tradition. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 1. Zürich: Kindler.

Höpel, G. (1975). Psychologie in der Erziehungsberatung. In R. Jäger & H. Schweizer (Hrsg.), Praxis der Psychologie. Weinheim/ Basel: Beltz.

Klafki, W. (1975). Das pädagogische Verhältnis. In W. Klafki et al., Erziehungswissenschaft 1. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Fischer.

Kreft, D. & Mielenz, I. (Hrsg.) (1980). Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim/ Basel: Beltz.

Lassahn, R. (1976). Einführung in die Pädagogik (2. Aufl.). Heidelberg: Quelle & Meyer.

Litt, T. (1949). Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems (4. Aufl.). Stuttgart: Klett.

Mollenhauer, K. (1964). Einführung in die Sozialpädagogik, Probleme und Begriffe. Weinheim/ Basel: Beltz.

Mollenhauer, K. (1965). Das pädagogische Phänomen "Beratung". In K. Mollenhauer & C. W. Müller (Hrsg.), "Führung" und "Beratung" in pädagogischer Sicht. Heidelberg: Quelle & Meyer.

Nohl, H. (1970). Der pädagogische Bezug. In F. W. Kron (Hrsg.), Das erzieherische Verhältnis. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt.

Pongratz, L. J. (1980). Die historische Entwicklung des Berufsfeldes Klinische Psychologie. In V. Birtsch & D. Tscheulin (Hrsg.), Ausbildung in Klinischer Psychologie und Psychotherapie. Weinheim/ Basel: Beltz.

Röhrich, R. (1976). Individualpsychologie in Erziehung und Unterricht. München: Ehrenwirth.

Rombach, H. (Hrsg.) (1970). Lexikon der Pädagogik, Bd. 1-4. Freiburg/ Basel/ Wien: Herder.

Roth, L. (Hrsg.) (1976). Handlexikon zur Erziehungswissenschaft. München: Ehrenwirth.

Rünger, H. (1964). Einführung in die Sozialpädagogik. Witten: Luther-Verlag.

Schleiermacher, F. E. D. (1970). Mutter und Kind. In F. W. Kron (Hrsg.), Das erzieherische Verhältnis. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt.

Schubert. F.-C. & Scheulen-Schubert, D. (1981). Familie, Familienfürsorge, Familienberatung und -therapie. In E. Kerkhoff (Hrsg.), Handbuch der Praxis der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Bd. 1. Düsseldorf: Schwann.

Spranger, E. (1958). Der geborene Erzieher. Heidelberg: Quelle & Meyer.

Spranger, E. (1962). Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer.

Sprey, T. (1968). Beraten und Ratgeben in der Erziehung. Zur Differenzierung einer pädagogischen Handlungsform. Weinheim/ Berlin/ Basel: Beltz.

Thiele, G. (Hrsg.) (1980). Handlexikon der Medizin, Bd. 1, 2. München/ Wien/ Baltimore: Urban & Schwarzenberg.

Wallner. E. M. & Funke-Schmitt-Rink, M. (1979). Soziologie der Erziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer.

Wehle, G. (Hrsg.) (1973). Pädagogik aktuell. Lexikon pädagogischer Schlagworte und Begriffe, Bd. 1. Erziehung, Erziehungswissenschaft. München: Kösel.