Störungen in der Familie behindern kindliche Entwicklung
Martin R. Textor
Kinder und Jugendliche befinden sich in einer besonders problematischen Situation, wenn in ihren Familien pathogene, d.h. psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten erzeugende Prozesse vorzufinden sind. Diese können von einzelnen Familienmitgliedern ausgehen, aus Charakteristika der jeweiligen Familie resultieren oder durch Faktoren in ihrem Umfeld hervorgerufen werden.
Auf der Ebene des Individuums ergeben sich Risiken für die kindliche Entwicklung vor allem dann, wenn ihre Eltern unter psychischen Störungen oder Suchtkrankheiten leiden. Psychisch kranke Erwachsene sind egozentrisch, konzentrieren sich auf ihre inneren Konflikte, empfinden starke Ängste und Schuldgefühle, leben oft in der Vergangenheit oder Zukunft. Sie sind somit wenig ansprechbar für ihre Kinder, da sie so sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Sie nehmen sich weniger die Zeit, ihnen zuzuhören, sondern tendieren eher dazu, ihre Kinder mit den eigenen Problemen und Depressionen zu belasten. Ihre Stimmung - gekennzeichnet durch Emotionen wie Niedergeschlagenheit, Apathie, Gereiztheit, Aggressivität oder Einsamkeit - wirkt sich auch auf die Gefühlslage der Kinder aus. Da sie häufig ein negatives Selbstbild haben und sich selbst abqualifizieren, trauen sie ebenfalls ihren Kindern wenig zu. Manche psychisch gestörten Eltern verdrängen Gedanken und Gefühle, schließen bestimmte Wahrnehmungen und Empfindungen aus ihrem Bewusstsein aus, folgen irrationalen Einstellungen und schätzen sich und ihre Umwelt falsch ein. Sie wirken desorientiert und entfremdet. Vielen mangelt es an Problem- und Konfliktlösungstechniken; ihr Verhaltensrepertoire ist eingeschränkt. Aufgrund ihrer Wahrnehmungs- und Denkstörungen, aber auch wegen dysfunktionaler Reaktionen, sind sie ein schlechtes Verhaltensmodell für ihre Kinder.
Viele Kinder entwickeln von sich aus auffällige Verhaltensweisen, da ein gefälliges, normales Verhalten in ihren Familien ignoriert oder als selbstverständlich betrachtet wird. Auf diese Weise versuchen sie, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erreichen. Dabei werden deren Reaktionen wie Nörgeln, Ärger, Verhätscheln oder Beschwichtigen als Zeichen von Anteilnahme gedeutet; sie wirken also als positive Verstärker und erhalten somit das gestörte Verhalten: Dieses wurde erlernt, weil die gewünschten Resultate nicht auf sozial akzeptable Weise erreicht werden konnten.
Auf der familialen Ebene können Kommunikations- und Beziehungsstörungen, ungelöste Konflikte, Rollenzuschreibung, problematische Erziehungsstile und Systemprozesse Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme von Kindern mitbedingen. Diese Faktoren sollen im Folgenden kurz skizziert werden:
1. Kommunikationsstörungen: Manche Familienmitglieder sind unfähig, Gedanken, Emotionen und Gefühle auszudrücken. Zugleich fühlen sie sich vom Erleben der anderen ausgeschlossen. Sie stolpern leicht in "Kommunikationsfallen", indem sie z.B. innere Prozesse mit ein oder zwei Worten andeuten und glauben, dass die Gesprächspartner nun wissen, was in ihnen vorgeht. Häufig versuchen sie, durch "Gedankenlesen" in andere einzudringen. Problematisch ist aber auch, wenn die verbale Kommunikation qualitativ unzureichend ist - wenn Botschaften undeutlich, vage, sehr allgemein und unvollständig sind. Dasselbe gilt für Fälle, in denen Familienmitglieder füreinander sprechen, durch Dritte kommunizieren, unterschiedliche Kommunikationskanäle verwenden oder inkongruente Botschaften senden, bei denen verbale Aussage, Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Stimmlage und/oder Kontext nicht übereinstimmen. Eine Inkongruenz besteht aber auch bei paradoxen Befehlen, bei denen zwei Handlungsanweisungen einander widersprechen - wenn z.B. ein Verhalten gefordert wird, das nur spontan auftreten kann ("Ich will, dass Du mich liebst"). In all diesen Fällen wissen Kinder (und Eltern) nicht, woran sie sind. Es kommt zu Missverständnissen und falschen Reaktionen, die u.U. bestraft werden. Die Kinder fühlen sich unverstanden und einsam.
2. Ungelöste Konflikte: Eine besonders belastende Situation entsteht für Kinder, wenn die Familienatmosphäre durch häufige bzw. ungelöste Konflikte oder durch aus deren Verdrängung resultierenden Spannungen gekennzeichnet ist. Oft sind auch Außenstehende (z.B. Schwiegereltern) in die Auseinandersetzungen verwickelt. Die meisten Konflikte nehmen trotz unterschiedlicher Anlässe immer wieder denselben Verlauf und führen aufgrund fehlender Konfliktlösungstechniken zum gleichen unbefriedigenden Ergebnis. So bleiben sie beispielsweise ungelöst, weil sich die Familienmitglieder nicht über das Problem einigen können, Ursache und Wirkung anders definieren, Schwierigkeiten verneinen, verschleiern oder projizieren, notwendige Informationen nicht besitzen oder sich selbst bzw. starre Familienstrukturen nicht ändern wollen. Die chronische Unzufriedenheit und Feindseligkeit können dazu führen, dass Eltern ihre Rollen und Aufgaben (z.B. im erzieherischen Bereich) unzureichend erfüllen, Familienmitglieder nur noch wenig Zeit miteinander verbringen, einzelne Personen isoliert werden oder Jugendliche ausgestoßen werden bzw. sich zu früh von daheim ablösen. Häufig werden auch interpersonale Konflikte internalisiert oder in der Form von Alkoholmissbrauch, Delinquenz, Kindesmisshandlung usw. ausagiert.
3. Beziehungsstörungen: Neben Familien mit konflikthaften Beziehungen und solchen, in denen die Mitglieder isoliert nebeneinander leben und ihre eigenen Wege gehen, finden wir noch Familien, in denen Mitglieder Machtkämpfe ausfechten, um bestimmte Beziehungsdefinitionen durchzusetzen. In anderen Fällen werden zu hohe Erwartungen an die Beziehung zu einer oder mehreren Personen (einschließlich der Kinder) gestellt, sodass diese überfordert sind und sich z.B. verweigern. Manchmal werden sie dann bestraft. Beziehungsstörungen können auch aufgrund von Projektionen entstehen, wenn beispielsweise Eltern bestimmte Persönlichkeitsaspekte, Triebimpulse oder intrapsychische Konflikte unbewusst in ihre Kinder verlagern, sie nun auf verzerrte Weise wahrnehmen und ein entsprechendes Verhalten erwarten oder gar stimulieren. So kann z.B. ein sexuell unbefriedigter oder gehemmter Vater seine sexuellen Wünsche in den Sohn projizieren, der diese dann ausagiert, von seinen Erlebnissen berichtet und dem Vater stellvertretende Befriedigung verschafft. Ähnlich wirken Delegationen ("Mein Sohn soll viel erfolgreicher als ich werden"; "Meine dreijährige Tochter soll Schauspielerin werden"). Beziehungen können auch um ein Symptom (z.B. Alkoholmissbrauch des Vaters) herum geschaffen werden. Schließlich können sie symbiotischer Natur sein: Hier "verschmelzen" beispielsweise Mutter und Tochter, grenzen ihr Selbst nicht gegeneinander ab, vertrauen einander die intimsten Gedanken und Gefühle an, sprechen füreinander und werden einander sehr ähnlich. Es ist offensichtlich, dass dieses auf Kosten der Persönlichkeitsentwicklung und Individuation der Tochter geht.
4. Problematische Rollenausübung und Rollenzuschreibung: Negativ auf die kindliche Entwicklung kann sich auswirken, wenn Familienmitglieder bestimmte Rollen nicht übernehmen (wenn z.B. ein Vater so in seiner Berufsrolle aufgeht, dass er nie Zeit für seine Familie hat), diese nur zum Teil ausfüllen (wenn z.B. eine Mutter ihren Kindern die beste Ernährung und Kleidung, aber kaum Liebe und Zuneigung bietet), diese zu starr oder zu flexibel handhaben. Besonders problematisch sind Rollenzuschreibungen: So mag ein Kind bei Konflikten als Bündnispartner, Schiedsrichter oder Vermittler eingesetzt werden. Es kann zum Sündenbock für alle Familienprobleme werden. In manchen konfliktreichen Familien übernehmen Kinder die Rolle des Symptomträgers, sodass sich die Eltern um sie kümmern müssen und von ihren Eheproblemen abgelenkt werden. Auf diese Weise verhindern sie ein Auseinanderbrechen ihrer Familie. Kommen Eltern ihren Pflichten in Haushalt und Kindererziehung nicht nach, wird manchmal auch ein Kind parentifiziert, übernimmt also die Zubereitung der Mahlzeiten und die Versorgung jüngerer Geschwister. Bei unbefriedigenden Ehebeziehungen kann ein Kind zum Ersatzpartner gemacht werden, was bis zu sexuellem Missbrauch führen kann. Es ist eindeutig, dass sich diese Rollenzuschreibungen nicht mit einer allseitigen, "gesunden" Entwicklung von Kindern vereinbaren lassen.
5. Problematische Erziehungsstile: Über autoritäre, permissive, normenlose und inkonsistente Erziehung, über Vernachlässigung und Überbehütung ist bereits so viel geschrieben worden, dass ich mich auf drei Sätze beschränken kann. Alle diese Erziehungsstile können die kindliche Entwicklung schädigen - insbesondere, wenn sie mit anderen pathogenen Einflüssen gekoppelt sind, das Kind sehr verletzlich ist und ausgleichende Kräfte in der sozialen Umwelt fehlen. Von allen Erziehungsstilen wird die Überbehütung hinsichtlich ihrer Wirkung am ehesten unterschätzt, da mangelnde Selbständigkeit, Abhängigkeit und symbiotische Beziehungen weniger auffallen. Anzumerken ist noch, dass Risiken für die kindliche Entwicklung auch aus der Geschlechtserziehung resultieren können, wenn z.B. Kinder nicht aufgeklärt werden oder ein nicht mehr zeitgemäßes geschlechtsspezifisches Verhalten vermittelt wird. Ferner passen manche Eltern ihr Erziehungsverhalten nicht dem Alter ihrer Kinder an.
6. Systemstrukturen und -prozesse: Problemfamilien bilden häufig geschlossene Systeme, d.h.‚ sie grenzen sich nach außen hin stark ab und sind nicht in ihre soziale Umwelt integriert. In anderen Fällen sind ihre Grenzen zu schwach ausgeprägt, sodass sich Außenstehende fortwährend in das Familienleben einmischen, die Eltern entmachten oder sie gegeneinander ausspielen. Ähnliches gilt für die Binnenstruktur: Entweder sind die Grenzen zwischen den einzelnen Subsystemen und Mitgliedern so diffus, dass es z.B. zu symbiotischen Beziehungen kommt, oder sie sind so stark ausgeprägt, dass Mitglieder isoliert sind bzw. die Familie in mehr oder minder konstante Koalitionen zerfällt. Besonders problematisch sind hier Bündnisse gegen ein Kind oder zwischen einem Elternteil und einem Kind. Schließlich ist das Äquilibrium (Gleichgewicht) in diesen Familien zu starr oder zu instabil: Entweder können Beziehungsdefinitionen, Interaktionsmuster, Regeln usw. kaum geändert werden oder alles ist immer in Bewegung, sodass z.B. Kindern Orientierungsmaßstäbe fehlen.
Auf der Ebene größerer sozialer Systeme können pathogene Einflüsse von den Herkunftsfamilien der Eltern oder von deren Netzwerk ausgehen. Für Kinder und Jugendliche ist jedoch vor allem die Qualität ihrer Beziehungen zu Gleichaltrigen von Bedeutung. Gelingt es ihnen z.B. aufgrund fehlender sozialer Fertigkeiten nicht, sich in Peergroups zu integrieren, so hat dieses negative Auswirkungen auf ihr psychisches Leben und ihr Selbstbild. Manche versuchen auch, auf unangemessene Weise die Aufmerksamkeit und Akzeptanz Gleichaltriger zu suchen. So handeln sie anderen gegenüber aggressiv, agieren in der Schulklasse aus, wechseln häufig den Sexualpartner, übernehmen die Rolle des Klassenclowns usw. In anderen Fällen gehen sie völlig in der Peergroup auf, unterwerfen sich der Gruppenideologie und differenzieren so kein Selbst aus. Problematisch ist vor allem, wenn die jeweilige Gruppe antisoziale Handlungen wie Kriminalität oder Drogenkonsum fördert.
Risiken für die kindliche Entwicklung liegen ferner im Schulsystem. So leiden viele Kinder und Jugendliche unter Schulstress und Überforderung. Ihre Lehrer sind nur noch selten erzieherisch tätig, reagieren manchmal auf unangemessene Weise auf ihre Schüler und wissen oft nicht, wie sie mit verhaltensauffälligen Kindern umgehen sollen. Gestörte Lehrer-Schüler-Beziehungen, Schwierigkeiten mit Klassenkameraden, Leistungsdruck usw. belasten manche Kinder so stark, dass sie Symptome entwickeln. Probleme können aber auch aus Loyalitätskonflikten - wenn z.B. Eltern und Lehrer Unterschiedliches lehren oder wenn Kinder positive Gefühle für Lehrer als Verrat an den Eltern erleben - oder Spannungen zwischen Eltern und Lehrern resultieren.
Es ist jedoch nicht gesagt, dass die vorgenannten pathogenen Faktoren immer psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten hervorrufen - viel hängt von ihrer Zahl (kumulative Wirkung) und Stärke ab. Auch haben Stressoren je nach Geschlecht, Alter, Temperament, Robustheit usw. des Kindes oder Jugendlichen unterschiedliche Auswirkungen. Beispielsweise sind Kinder weniger "verwundbar", wenn sie ein positives Selbstbild haben, gute Schulleistungen erbringen, überdurchschnittliche sprachliche Fertigkeiten besitzen, durch ihr Verhalten positive Reaktionen der interpersonalen Umwelt hervorrufen können, flexibel sind und eher ein androgynes als ein geschlechtsspezifisches Verhalten zeigen. Auch können spätere positive Erfahrungen frühkindliche Belastungen ausgleichen. Besonders kompensatorisch wirkt sich eine gute Beziehung zu einer primären Bezugsperson aus, wobei es sich hier nicht nur um die Mutter, sondern auch um Großeltern oder andere Personen handeln kann.