Drei Familien-Mythen
Martin R. Textor
In diesem Beitrag soll mit drei Mythen über die Vergangenheit gebrochen werden, die noch immer unsere Idealvorstellungen über die Familie und die "gute, alte Zeit" prägen. Beispielsweise wird oft davon ausgegangen, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr früher aufgrund gesellschaftlicher und kirchlicher Normen und Sanktionen, aber auch wegen fehlender Verhütungsmittel, eine Ausnahme war. Jedoch waren im Mittelalter vor- und außereheliche sexuelle Erfahrungen durchaus üblich. Einen Hinweis auf das Ausmaß nicht ehelichen Geschlechtsverkehrs im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt die Zahl nicht ehelicher Geburten. So waren z.B. in Bayern von 1.000 Geburten 196 in den Jahren 1816/20, 208 in den Jahren 1851/55 und immerhin noch 123 in den Jahren 1951/55 nicht ehelich. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden etwa 13%, um die Jahrhundertwende knapp 20% und um 1930 etwa 38% der Kinder nachträglich legitimiert. Zudem ist zu bedenken, dass häufig - auch noch in den 50er Jahren - während der Schwangerschaft der Frau geheiratet wurde, diese also einer der wichtigsten Heiratsgründe war.
Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass in der Vergangenheit ebenfalls viele nicht eheliche Kinder abgetrieben wurden, obwohl dieses mit ganz wenigen Ausnahmen strafbar war: So schätzte zum Beispiel Stoeckel in seinem "Lehrbuch der Geburtshilfe", das 1945 in achter Auflage in Jena erschien, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche (auf 1.000 Lebend- und Totgeborene) für die Jahre 1890 auf circa 100, für 1912 auf circa 200 bis 250 und für 1930 auf circa 500. Hierbei handelt es sich um eine konservative Schätzung; andere Autoren gehen von höheren Zahlen aus.
Der Mythos von der Großfamilie
Früher waren die Mütter- und Kindersterblichkeit sehr hoch. So starben z.B. in Bayern von 1.000 Lebendgeborenen im ersten Lebensjahr in den Jahren 1832/35 302 Kinder und in den Jahren 1901/05 240 Kinder. Dadurch bedingt waren früher die Familien nicht viel größer als heute. Beispielsweise betrug in Bayern die durchschnittliche Haushaltsgröße in den Jahren 1818, 1852 und 1871 4,6 Personen, stieg 1900 kurz auf 4,7 Personen an und sank dann 1925 auf 4,3 Personen. Zudem ist zu bedenken, dass in ländlichen Regionen Bayerns Anfang des 19. Jahrhunderts das Heiratsalter des Bräutigams bei über 28 Jahren und das der Braut bei 27 Jahren lag, sodass aufgrund der niedrigen Lebenserwartung und des früheren Eintretens der Menopause nur etwa 15 Jahre für die Zeugung von Kindern zur Verfügung standen. Das erklärt auch, wieso Mehrgenerationenfamilien relativ selten waren.
Zudem lebten und arbeiteten in vielen Haushalten früher familienfremde Personen, was beim Vergleich von Haushaltsgrößen aus verschiedenen Jahrhunderten zu berücksichtigen ist. So lebten z.B. 1882 im Deutschen Reich 1.282.414 Dienstboten im Haus des Arbeitgebers; 1925 waren es 1.016.022 und 1939 immerhin noch 995.117 Personen. In Bayern wohnte im Jahre 1910 in 20% der Haushalte Gesinde und in knapp 11% Untermieter beziehungsweise Schlafleute. Generell herrschten in der Vergangenheit Kleinfamilien und unvollständige Familien vor. So sind Aussagen über einem Übergang von der Großfamilie zur Kleinfamilie schlichtweg falsch.
Was heute die Ehescheidung ist, war früher die Verwitwung
In den letzten Jahrzehnten stieg die Scheidungsrate stark an, zerbrachen immer mehr Familien. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass unaufgelöste Ehen heute mehr als doppelt so lange bestehen wie vor 100 Jahren, dass früher etwa gleich viele Ehen durch den vorzeitigen Tod eines Partners (insbesondere aufgrund der hohen Müttersterblichkeit) beendet wurden wie heute durch Scheidungen und dass es dementsprechend damals ebenfalls eine große Zahl von Alleinerziehenden und Stieffamilien gab. Auch ist natürlich die geringe Scheidungsrate in der Vergangenheit kein Indiz für eine bessere Qualität der Ehebeziehung. So spielten früher Liebe und Emotionalität eine geringere Rolle, wurden weniger Erwartungen an die Partnerschaft gestellt, waren außereheliche Beziehungen häufig. Und nicht nur die vielen Märchen über die "böse" Stiefmutter sind ein Indiz dafür, dass es auch viele "problematische" (Stief-) Eltern-Kind-Beziehungen gab...