Familienpolitik im Kontext von Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik

Martin R. Textor

 

Wer das mir vorgegebene Thema im Zusammenhang mit der derzeitigen Diskussion um den Sozialstaat sieht, der wird Schlimmes ahnen. Und ich werde seine bzw. ihre Vorahnungen nicht enttäuschen, selbst wenn dadurch mein Referat unter Umständen aus dem Rahmen der anderen Vorträge und Diskussionsbeiträge fallen wird.

Das Thema "Die Familienpolitik im Kontext von Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik" ist ein zweifaches: Zum einen geht es um die Finanzierbarkeit der Familienpolitik, zum anderen um deren Stellung und Stellenwert im Vergleich zu anderen Politikbereichen. Aus aktuellem Anlass möchte ich die erstgenannte Fragestellung in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen.

In den letzten Monaten ist kaum ein Tag vergangen, an dem sich nicht ein Vertreter eines Arbeitgeberverbandes, eines Verbandes der Deutschen Industrie, einer Industrie- und Handelskammer, eines Großunternehmens oder eines wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Wort gemeldet hat, um die Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland durch zu hohe Arbeitskosten zu beklagen. Hierfür werden vor allem die hohen Sozialabgaben verantwortlich gemacht. Aus dem zuständigen Bundesministerium kommen Hiobsbotschaften, die jedoch einen unvorhergesehenen weiteren Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge ankündigen - abgesehen davon, dass Mitte des Jahres auch die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöht werden. Somit ist noch mehr Protest von Seiten der Wirtschaft und der Arbeitgeber zu erwarten.

In den letzten Monaten ist auch deutlich geworden, welche Konsequenzen die deutsche Wirtschaft zieht: Aufgrund der hohen Lohn- und Arbeitskosten in Verbindung mit anderen Faktoren wie den relativ kurzen Arbeitszeiten, der hohen Unternehmensbesteuerung, der starken Verrechtlichung und Bürokratisierung werden immer mehr Arbeitsplätze von Deutschland in das Ausland verlagert. Selbst hochindustrialisierte Länder wie die USA bekommen neue Arbeitsplätze auf Kosten unseres Arbeitsmarktes hinzu. Deutlich wird aber auch, dass es wenig Sinn macht, nun die Arbeitgeber und Unternehmer an den Pranger zu stellen oder gar zu erwarten, dass diese aufgrund einiger Zugeständnisse der Gewerkschaften Hundertausende neuer Arbeitsplätze schaffen werden. Je stärker die Wirtschaftsräume der einzelnen Länder und Staatenbünde miteinander verflochten werden, je offener die Märkte und je besser die Verkehrsverbindungen werden, umso größer wird die Konkurrenz zwischen den Unternehmen in Europa, Amerika und Asien. Und umso leichter wird es, dort zu produzieren, also Arbeitsplätze dahin zu verschieben, wo es am billigsten ist. Mit dem Wegfall von Zöllen und Handelshindernissen sind nämlich nur noch die Transportkosten zu berücksichtigen, wenn die im Ausland geschaffenen Produkte wieder am Sitz des Unternehmens angeboten werden sollen.

In den letzten Monaten und Jahren sind aber auch Hiobsbotschaften von Bund, Ländern und Gemeinden gekommen. Zum einen wurde ein rascher Anstieg der öffentlichen Schulden gemeldet, zum anderen hohe unerwartete Steuerausfälle. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schulden nicht in dem Maße abgebaut werden, wie neue Schulden gemacht werden. So betragen die öffentlichen Schulden bereits mehr als zwei Billionen DM, eine kaum vorstellbare Summe. Damit wächst zugleich die Zinslast, die 1994 rund 113 Mrd. DM für Bund, Länder und Gemeinden betrug. Somit muss ein immer größerer Anteil der Einnahmen für Zinsen und Tilgung ausgegeben werden; immer weniger steht für andere Ausgaben zur Verfügung.

Für die Krise der öffentlichen Haushalte werden häufig die hohen Sozialausgaben verantwortlich gemacht; es heißt, der Sozialstaat ruiniere die Staatsfinanzen. Vor allem zwei Faktoren sind aber von größerer Bedeutung: zum einen die Folgekosten der Deutschen Einheit - zwischen 1991 und 1995 wurde fast eine Billion DM in die neuen Bundesländer transferiert, zum anderen die hohe Arbeitslosigkeit. Da durch Arbeitslosigkeit Sozialversicherungsbeiträge ausfallen und zugleich die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung und aufgrund von Frührenten auch der Rentenversicherung steigen, müssen die Versicherungsbeiträge erhöht werden. Damit steigen die Arbeitskosten, und - wie bereits gesagt - die Arbeitgeber verlagern immer mehr Arbeitsplätze in "billigere" Länder. Es entsteht ein Teufelskreis, der m.E. immer mehr an Dynamik gewinnt.

Vor diesem Hintergrund wird zunehmend die Forderung nach einem Abbau des Sozialstaates gestellt. Es wird darauf verwiesen, dass die Sozialleistungsquote in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich stieg und in den letzten Jahren noch einen großen Sprung nach vorne tat. So nahm die Sozialleistungsquote, d.h. der Sozialaufwand im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung, von 17,1% im Jahr 1950 über 22,7% im Jahr 1960, 26,7% im Jahr 1970 und 32,0% im Jahr 1980 auf nunmehr circa 34% zu. 1993 wurde mit 1063 Mrd. DM erheblich mehr für die soziale Sicherung ausgegeben als z.B. für Erhalt und Ausbau des Produktionskapitals, wofür nur 706 Mrd. DM investiert wurden. Zugleich wuchsen die Staatsausgaben auf über 45% des Bruttosozialprodukts. Die Kritiker des Sozialstaats fordern ein Rückschrauben der Sozialleistungsquote und möglichst auch anderer Staatsausgaben, also umfassende, generelle Kürzungen bei den Sozialversicherungen und anderen sozialstaatlichen Maßnahmen. Hierzu wird eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht, die zum Teil auch von Regierungspolitikern aufgegriffen wurden. Auf diese Weise sollen die Sozialabgaben und möglichst auch die Steuern spürbar gesenkt werden. Zusätzlich werden die Missbrauchsmöglichkeiten bei Sozialleistungen, das hohe Absicherungsniveau von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ("Vollversicherung") sowie die Bürokratisierung und mangelnde Effizienz des Sozialsystems angeprangert.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: (1) Geringes Wirtschaftswachstum, Verlust von Arbeitsplätzen und hohe Arbeitslosenquote in Deutschland stehen u.a. in Bezug zu den hohen Arbeitskosten. Ein Reduzieren oder zumindest Konstanthalten der Sozialabgaben scheint fast unumgänglich zu sein; dies ist auf Dauer nur durch den Abbau der Leistungen der Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu erreichen. (2) Niedrigere Einnahmen, hohe Ausgaben und insbesondere der "Schuldenberg" vermindern die finanziellen Spielräume von Bund, Ländern und Kommunen, vor allem im Bereich der Sozialpolitik. (3) Der Sozialstaat steht im Brennpunkt der Kritik. Mit einem weiteren Ausbau ist kaum zu rechnen - eher mit dem Abbau von Sozialleistungen. Für die Familienpolitik ergibt sich m.E. aus dem Gesagten, dass zum einen auch hier der Kostendruck steigen wird. Schon jetzt werden viele Leistungen wie das Erziehungsgeld oder Zuschüsse zur Familienerholung nicht mehr an die Inflationsrate angepasst. Zum anderen ist zu folgern, dass neue, insbesondere kostspielige Leistungen für Familien kaum durchsetzbar sein werden oder nur über die Umverteilung von Sozialausgaben finanzierbar sein dürften.

Familienpolitische Leistungen

Wenden wir uns nun der Frage zu, welchen Anteil familienpolitische Leistungen an den Ausgaben des Staates haben. Im Jahr 1994 beliefen sich die Ausgaben von Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen auf 1664 Mrd. DM. Der Gesamtaufwand für das soziale Netz lag bei 1110 Mrd. DM. Jedoch wurden nur etwa 638 Mrd. DM an private Haushalte übertragen. Circa 96% dieser Ausgaben machten soziale Leistungen aus, also Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe usw. Es ist außerordentlich schwer zu ermitteln, wie hoch der Anteil familienpolitischer Leistungen an diesen Ausgaben ist. Das liegt zum einen an der Abgrenzungsproblematik (Was sind familienpolitische Leistungen?) und zum anderen an der Vielzahl der "Geldgeber" auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Betrachten wir zunächst den Bundeshaushalt 1995. Hier wurden 33,1 von 484,1 Mrd. DM für "Frauen, Jugend, Familie und Senioren" angesetzt. Auch das ist noch eine ungenaue Angabe. Vor zwei Jahren habe ich deshalb versucht, die eigentlichen Ausgaben für Familien auszurechnen, und für 1992 rund 90 Mrd. DM an familienpolitischen Leistungen des Bundes ermittelt - also sehr viel mehr als der gerade erwähnte Haushaltsansatz für 1995. Der Grund hierfür ist: Rund 51 Mrd. DM machten alleine Steuererleichterungen aus.

Über die familienpolitischen Ausgaben der Bundesländer liegt meines Wissens keine Übersicht vor - zu sehr unterscheiden sich die Leistungen je nach Land, zu schwierig ist die Ermittlung verlässlicher Daten. Während meiner Abordnung an das Bayerische Sozialministerium war es mir aber möglich, zumindest Zahlenangaben für den Freistaat Bayern zu ermitteln. Im Jahr 1992 gab dieses Land knapp 2,5 Mrd. DM für Familien aus.

Erst recht mangelt es an Daten über die familienpolitischen Leistungen der Kommunen, also der Landkreise und kreisfreien Städte. Sie erbrachten 1991 Sozialleistungen in Höhe von circa 12,5 Mrd. DM, in erster Linie für Sozialhilfe, Jugendhilfe und Kriegsopferfürsorge. Das heißt, dass nur ein Bruchteil dieser Ausgaben der örtlichen Familienpolitik zuzuschreiben ist.

Ende 1992 führte ich in Bayern eine Umfrage durch, an der sich alle 71 Landkreise und alle 25 kreisfreien Städte beteiligten sowie eine nichtrepräsentative Auswahl von 212 kreisangehörigen Städten und 119 kreisangehörigen Gemeinden. Sie zeigte, dass manche familienpolitischen Leistungen der Kommunen auch aus dem Verzicht auf Einnahmen bestanden, was also nicht unter den vorgenannten Betrag fallen würde. Noch interessanter war das Ergebnis, dass sich die Leistungen von Kommune zu Kommune stark unterschieden. Ein Beispiel sind Familienermäßigungen beim Besuch kommunaler Einrichtungen; sie gab es beim Besuch von Freibädern bei 6% der Landkreise, aber 72% der kreisfreien Städte, beim Besuch von Hallenbädern bei 20 bzw. 56%. Natürlich waren die Familienermäßigungen, die es auch vereinzelt für den Besuch von Eisstadien, Museen, Musikschulen, Sport- und kulturellen Veranstaltungen gab, je nach Kommune unterschiedlich hoch, variierten die Berechtigungskriterien. Nur in vier kreisfreien und zwei kreisangehörigen Städten gab es Familienpässe, allerdings in 42% der Landkreise und 72% der kreisfreien Städte sowie in einzelnen Gemeinden Ferienpässe - ebenfalls mit ganz verschiedenen Angeboten und Regelungen. Rund 7% der Landkreise, 24% der kreisfreien Städte, 6% der kreisangehörigen Städte und 2% der Gemeinden förderten den Erwerb von Wohneigentum oder dessen Ausbau. Ein mehr oder minder kleiner Teil der Gemeinden bot Familienermäßigungen für den öffentlichen Nahverkehr, Zuschüsse zur Familienerholung, Stadtranderholung, Ermäßigungen in Kindertageseinrichtungen bei Anmeldung von Geschwistern oder niedrigem Einkommen, Übernahme ungedeckter Kindergartengebühren, Erweiterung der Kostenfreiheit des Schulweges, Zuschüsse zu Klassenfahrten, Hausaufgabenbetreuung, Freimilch, kostenlose Elternbriefe u.v.a.m. an.

Definition und Charakteristika von Familienpolitik

Die gerade genannten Maßnahmen und Zahlen verdeutlichen, dass man Familienpolitik nicht auf den Familienlastenausgleich verkürzen darf, also auf Kindergeld, Erziehungsgeld und einige Steuerfreibeträge. Familienpolitik umfasst eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Leistungen materieller Art, aber auch familienentlastende und familienunterstützende Angebote. Zudem ist die vorgenannte Aufzählung längst nicht vollständig; Familienpolitik umfasst z.B. auch die Gestaltung des Ehe- und Familienrechts, die Sicherung des Kindeswohls, die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Erleichterung des Wiedereintritts in das Erwerbsleben, den familiengerechten Wohnungsbau, die Stärkung des Ansehens von Ehe und Familie, die Verbesserung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen usw. Außerdem wurden Maßnahmen der Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfegruppen usw. noch nicht erwähnt.

Familienpolitik lässt sich somit definieren als das bewusste, zielgerichtete und planvolle Einwirken öffentlicher und freier Träger auf die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Lage von Familien. Sie richtet sich entweder auf die Familie als Ganzes, auf einzelne Mitglieder oder auf die Umwelt, setzt sich also für eine familienfreundliche Gesellschaft ein. Die Familienpolitik geht zum einen vom "Normalfall" aus, für den vor allem finanzielle Leistungen und Steuererleichterungen vorgesehen sind. Zum anderen bezieht sie sich auf Familien in besonderen Problemlagen oder mit Belastungen. Ihnen bietet sie auf den Einzelfall zugeschnittene Maßnahmen wie Beratungsangebote, Erholungsmaßnahmen, ambulante Dienste oder finanzielle Leistungen an. Anders gesagt, lassen sich drei Kategorien familienpolitischer Ziele unterscheiden: (1) Kompensatorische Ziele betreffen die Verminderung sozialer Ungerechtigkeit zwischen Familien und Kinderlosen sowie zwischen Familien in verschiedenen Lebenslagen. (2) Präventive Ziele beziehen sich auf das Verhindern von Fehlentwicklungen bei Familien und einzelnen Mitgliedern. (3) Korrektive Ziele betreffen die Behebung oder Milderung von Familienproblemen und -belastungen.

Betrachtet man die vorgenannten Ziele und Leistungen der Familienpolitik, so fällt auf, dass viele von ihnen auch in andere Politikbereiche fallen: Beispielsweise ist für Steuererleichterungen und Transfers wie das Kindergeld die Finanzpolitik, für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Wirtschaftspolitik, für Veränderungen im Familien- und Kindschaftsrecht die Rechtspolitik oder für die Gestaltung eines familienfreundlichen Wohnumfeldes die Stadtplanung mitzuständig. Offensichtlich ist, dass Politikbereiche wie Wirtschafts-, Finanz- oder Arbeitsmarktpolitik viel "mächtiger" als die Familienpolitik sind; diese hat nur einen geringen Stellenwert. Zugleich wird deutlich, dass Familienpolitik "Querschnittspolitik" ist. Sie muss ressortübergreifend tätig werden, also viele andere Politikbereiche zu beeinflussen versuchen. Das trägt natürlich zu ihrem geringen Einfluss bei. Viele Entscheidungen werden im Bundestag, in den Landtagen und Gemeinderäten, in Ministerien und Behörden getroffen, die familienrelevante Auswirkungen haben - bei denen aber familienpolitische Gesichtspunkte kaum oder überhaupt nicht Berücksichtigung fanden.

Die Darstellung familienpolitischer Leistungen, differenziert nach Bund, Ländern und Gemeinden, hat schon verdeutlicht, dass Familienpolitik verschiedene Träger hat. Neben den Gebietskörperschaften spielen noch die Wohlfahrtsverbände, die Unternehmen, die Tarifpartner, die Familienverbände, die Kirchen und viele andere Organisationen eine Rolle. Der Bereich der Familienpolitik ist also durch eine Zersplitterung der Träger bzw. Kräfte gekennzeichnet, verbunden mit Interessenskonflikten, mangelnder Koordination und Reibungsverlusten. Alleine im katholischen Bereich beanspruchen der Familienbund der Deutschen Katholiken, die Katholische Elternschaft Deutschlands, die Kolpingfamilie, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung und das Zentralkomitee der Katholiken familienpolitische Kompetenz - neben den rein kirchlichen Instanzen. Offensichtlich ist, dass diese Vielzahl von Trägern der Familienpolitik zu der geringen politischen Macht dieses Bereichs beiträgt. Zudem ist es bisher keiner Gruppierung gelungen, eine größere Zahl von Familien zu mobilisieren.

Ausblick

Zusammenfassend lässt sich also die Familienpolitik als relativ machtlos charakterisieren. Nimmt man die am Anfang meines Referats vorgetragene Infragestellung des Sozialstaates und der zu erwartende Abbau von Sozialleistungen hinzu, ist m.E. mit keinen Verbesserungen für Familien in den nächsten Jahren zu rechnen. Nach dem Jahr 2000 dürften sich negative Entwicklungen sogar noch beschleunigen. So lässt sich seit den 1970-er Jahren aus der Geburtenentwicklung in Deutschland ablesen, dass in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts nicht nur die Bevölkerung schrumpfen, sondern vor allem auch stark altern wird. Der Anteil älterer Menschen auf je 1000 Deutsche im erwerbsfähigen Alter wird von derzeit 350 auf über 700 im Jahr 2030 steigen. Schon in weniger als 25 Jahren wird eine ältere Person auf zwei Personen im Erwerbsalter kommen. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass diese Alterung der Gesellschaft Deutschland und seine Bürger nachhaltiger und einschneidender prägen wird als z.B. die Wiedervereinigung.

An dieser Stelle möchte ich nochmals das Thema der hohen Arbeitskosten bzw. Sozialabgaben in Deutschland aufgreifen. Offensichtlich ist, dass die Alterung der Gesellschaft zu einer Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge führen wird. Schon Anfang der 1980-er Jahre war bekannt, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung im Jahr 2020 auf rund 25 Prozentpunkte und im Jahr 2030 auf etwa 34% ansteigen wird. Derzeit beträgt der Beitragssatz 19,2 Prozentpunkte. Ein Gutachten der Basler Prognos AG vom vergangenen Jahr, das im Auftrag der Deutschen Rentenversicherungsträger erstellt wurde, bestätigt diese Zahlen, wenn auch aufgrund der Rentenreform von 1992 etwas niedrigere Zahlen errechnet wurden. Hier werden beispielsweise für das Jahr 2030 Beitragssätze zwischen 26,3 und 28,5 Prozentpunkten erwartet.

Je mehr alte Menschen zu versorgen sind, umso höher werden natürlich auch die Kosten und damit die Beiträge von Kranken- und Pflegeversicherung werden. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände berechnet für das Jahr 2030 einen Krankenversicherungsbeitrag von 17 Prozentpunkten und einen Pflegeversicherungsbeitrag von 3,5 Prozentpunkten; die Voraussagen der Prognos AG sind etwas niedriger. Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer - ohne größere Einschnitte in das soziale Netz - in den kommenden Jahren einen immer größeren Anteil seines Einkommens an die Sozialversicherungen abführen muss: Im Jahr 2030 dürften es mehr als 50% sein. Dazu kämen dann noch die Steuern - wobei aufgrund der zunehmenden Zahl pensionierter Beamter im Jahr 2030 knapp 70% des Steueraufkommens für Pensionen ausgegeben werden müssten.

Selbst wenn man die mit Prognosen verknüpften Unsicherheitsfaktoren berücksichtigt, bleibt festzuhalten, dass - auch aufgrund der "Schuldenberge" - die sozial- bzw. familienpolitischen Spielräume in der überschaubaren Zukunft immer kleiner werden. Selbst mit Umverteilungen werden in den kommenden Jahrzehnten materielle Verbesserungen für Familien kaum zu erreichen sein. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das soziale Klima in Deutschland schlechter werden wird, dass Einschnitte in das soziale Netz unvermeidbar werden.

Anmerkung

Bei diesem Text handelt es sich um ein Referat, das auf der Veranstaltung "Gute Familienpolitik - schlechte Familienpolitik?! Gesprächsforum für Fachleute, PolitikerInnen und Interessierte" des Bildungswerks Weiterdenken e.V. - die Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen -im Februar 1996 in Leipzig gehalten wurde.