Im Gespräch mit Kleinkindern

Martin R. Textor

 

Im Gespräch mit dem Kind wird die Beziehung zu ihm gestaltet. Zugleich wird seine Bindung an die Eltern intensiviert - Bindungen sind wichtig für eine normale Entwicklung und geben Sicherheit für das Erforschen der Umwelt und die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen. Das Gespräch ist aber auch die wichtigste Erziehungs- und Bildungsmethode: In ihm werden nicht nur das psychische Leben und Verhalten des Kindes beeinflusst, sondern auch intellektuelle, kreative und soziale Entwicklungsbereiche. Wissenschaftliche Studien haben beispielsweise ergeben, dass kognitive Prozesse und Sprachkompetenzen am stärksten in intensiven Gesprächen zwischen Erwachsenem und Kind stimuliert werden.

Das Gespräch ist ein Austausch von verbalen Äußerungen und nonverbalen Botschaften (via Mimik, Gestik, Tonfall usw.), wobei letztere nicht nur die Atmosphäre des Gesprächs mitbestimmen, sondern auch - neben dem Kontext - die wörtlichen Aussagen "qualifizieren": Es macht einen Unterschied, ob ein Mann zu seiner Frau "Ich liebe dich" sagt und dabei zärtlich oder unbewegt schaut bzw. ob er dies sagt, wenn sie gerade die Hände im Spülwasser hat oder wenn sie auf dem Sofa sitzt und ihn ankuschelt.

Kleinkinder, deren Sprachverständnis und Wortschatz noch begrenzt sind, sind besonders stark darauf angewiesen, nonverbal zu kommunizieren bzw. die Reaktionen der Eltern aus deren Mimik und Gestik zu erschließen. Für Eltern bedeutet dies einerseits, die Körpersprache ihres Kindes genau zu beobachten, um so dessen Absichten, Bedürfnisse und Gefühlszustände zu erschließen, und andererseits, selbst bewusst nonverbale Signale einzusetzen (z.B. Blickkontakt, Anlächeln, Berühren, Zuwenden). Auch sollten Äußerungen und Körpersprache möglichst immer übereinstimmen, damit Kleinkinder nicht durch Widersprüche verwirrt und verunsichert werden. So gelingt es Eltern beispielsweise nur selten, ihren aktuellen Gemütszustand zu verheimlichen; ihr Kind erspürt ihn.

Beim Gespräch mit Kleinkindern spielt auch die unterschiedliche Körpergröße eine Rolle: "So liegt es in der Natur der Sache, dass der Größere auch immer als der Stärkere angesehen wird. Für Gespräche mit Kindern bedeutet das, dass allein der Größenunterschied die Art und Weise des Gesprächsverlaufs beeinflusst" (Kolthoff 2006, S. 21). Insbesondere für ein intensives Gespräch mit ihrem Kind sollten sich die Eltern auf die gleiche Augenhöhe begeben, also sich neben es setzen oder in die Hocke gehen. Kleinkinder können aber auch schlecht zuhören, wenn sie von relativ schnell gehenden Erwachsenen hinter sich hergezogen werden. Auch nehmen sie von ihrer Position aus andere Dinge wahr. Wenn sie diese genauer anschauen oder gar mit dem Elternteil darüber sprechen wollen, werden sie oft weitergezerrt, weil der Erwachsene ander(e)s wahrnimmt.

Der Größen- bzw. der Kraft- und Machtunterschied kann gegenüber Kleinkindern leicht ausgespielt werden, wenn die Eltern Anweisungen geben oder sich durchsetzen wollen, wenn sie mit Verhaltensweisen des Kindes nicht einverstanden oder wütend sind. Wie leicht kann ein Kind eingeschüchtert werden! Welchen Mut bringt ein Kleinkind im Trotzalter auf, wenn es sich den Eltern widersetzt! Eltern sollten deshalb mit ihrer Größe, Stärke und Macht vorsichtig umgehen. Wenn sie z.B. Kritik in der Form von Ich-Botschaften senden ("Ich bekomme von dem Lärm Kopfschmerzen, könntest du bitte etwas leiser sein?"), kommt diese ganz anders an als eine Anordnung ("Hör sofort mit dem Lärm auf, oder…"): Das Selbstwertgefühl des Kindes wird nicht in Mitleidenschaft gezogen; es kann "das Gesicht wahren".

Kinder können durchaus nerven, stören, ihre Eltern ärgern etc. und benötigen dann eine Rückmeldung über ihre Wirkung. Durch Ich-Botschaften können Eltern dem Kind zeigen, dass sie eigene Bedürfnisse, Interessen und Bedürfnisse haben und deshalb auch Zeit für sich selbst (oder den Partner) benötigen. Wenn Grenzen überschritten wurden und das Kind bestraft werden musste, sollten die (starken) Eltern nach kurzer Zeit den ersten Schritt tun und wieder das Gespräch mit dem Kind suchen. So wird die Beziehung weniger belastet.

Gesprächsinhalte zu finden, ist bei Kleinkindern sehr einfach: Sie sind so neugierig und an so vielem interessiert, dass sie schon von sich aus vielfältige Themen anschneiden und Unmengen von Fragen stellen. Das Problem ist hier eher, wie können Eltern ein Gespräch wieder beenden bzw. die endlose Kette von Fragen unterbrechen, ohne die Offenheit des Kindes oder seinen Wissens- und Erkundungsdrang zu hemmen. Ein anderes, in diesem Kontext wichtigeres Problem ist, dass Erwachsene viele Fragen und Themen der Kinder als unwichtig, irrelevant, dumm oder "kindisch" abtun. Dabei eröffnen die Äußerungen nicht nur den Zugang zum Weltverständnis, zur Perspektive und zum psychischen Erleben des Kindes, sondern sie konfrontieren auch mit den Grenzen des eigenen Wissens ("Weshalb ist der Himmel blau?") oder führen zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben ("Glaubst du an Gott?").

Deshalb ist es wichtig, dass Eltern gut zuhören (können). "Zuhören ist eine Voraussetzung, Kinder kennen zu lernen und zu verstehen. Ohne Zuhören gibt es keinen echten Dialog. Zuhören drückt Anerkennung aus und nimmt das Kind ernst mit seinen Gefühlen, Gedanken und Ansichten. Wenn jemand interessiert und aufmerksam zuhört, werden Kinder ermuntert, sich zu äußern, zu entfalten, Probleme lösen zu lernen und schöpferische Ideen zu entwickeln" (Friedrich 2003, S. 52). Kinder werden sich aber nur dann offen äußern, wenn eine Vertrauensbasis besteht und sie das Gefühl haben, so akzeptiert zu werden, wie sie sind.

Leider haben viele Erwachsene nicht gelernt zuzuhören, nehmen sie sich kaum Zeit für Gespräche mit ihren Kindern oder glauben, sie gut zu kennen und zu wissen, was sie denken oder sagen wollen. Letzteres ist aber oft nicht der Fall bzw. führt zu Missverständnissen. Viele ältere Kinder und Jugendliche erwarten schon gar nicht mehr, von ihren Eltern angehört oder gar verstanden zu werden - und dann werden diese auch nicht mehr den Zugang zum Leben ihrer Kinder finden, das sich in Gleichaltrigengruppen, in Chaträumen, auf Websites wie "facebook.de" oder in virtuellen Welten wie "secondlife.com" abspielt. Die in diesen Familien herrschende Sprachlosigkeit wurde schon in der frühen Kindheit angebahnt…

Deshalb ist es wichtig, dass Eltern nicht nur das Gespräch mit Kleinkindern suchen, sondern auch überprüfen, ob sie diese richtig verstanden haben. Das ist z.B. mit Hilfe des aktiven Zuhörens möglich - indem Eltern mit eigenen Worten das wiederholen, was ihr Kind gesagt hat, sodass dieses sie notfalls korrigieren kann. Zudem ist dies ein Anreiz für das Kind, das Gesagte zu ergänzen oder weiterzusprechen. Dasselbe gilt, wenn Eltern nachfragen und auf diese Weise Interesse an der Person, den Gedanken und Gefühlen des Kindes zeigen, wenn sie seine individuelle Perspektive zu verstehen versuchen, wenn sie seine "eigene Welt" akzeptieren und wenn sie empathisch sind, sich in das Kind intuitiv einfühlen und seelisch mitschwingen. Schließlich müssen sie auf die Äußerungen des Kindes angemessen reagieren, ihre Meinung dazu äußern, Antworten auf Fragen geben, Stellung nehmen usw., damit der Dialog fortgeführt wird. Das sollte in einer altersgemäßen Sprache erfolgen, also für das Kind eindeutig und verständlich sein.

Aber auch Kleinkinder müssen lernen, zuzuhören und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das ist für sie gar nicht so einfach, werden sie doch mit so vielen (Medien-) Eindrücken bombardiert, haben sie doch selbst einen so großen und oft unbefriedigten Redebedarf. Sie müssen erst noch erkennen, "dass Zuhören genauso wichtig und auch genauso schön und aufregend sein kann wie selbst zu reden" (Kolthoff 2006, S. 42). Kinder lernen Zuhören und Empathie am Vorbild ihrer Eltern - wenn diese ihnen zuhören und auf ihre Gefühle eingehen oder wenn sie ihren Kindern gegenüber eigene Gefühle offenbaren und zeigen, wie man sie richtig ausdrückt bzw. bezeichnet. Letzteres wird übrigens Töchtern gegenüber häufiger praktiziert als gegenüber Söhnen, was die größere "emotionale Intelligenz" (Goleman 1996) und die besseren kommunikativen Kompetenzen von Mädchen mitbedingen dürfte. Lernen Kinder nicht am Beispiel der Erwachsenen, über ihre Empfindungen zu sprechen, können sie z.B. psychische Belastungen nicht äußern - diese zeigen sich dann oft in Schlafstörungen, Bauchschmerzen (ohne feststellbare physische Ursache), mangelndem Appetit, Nervosität usw.

Mit zunehmender Erwerbstätigkeit und -dauer von Eltern wird die Zeit für Kinder immer knapper. Wichtig ist, dass diese Zeit sinnvoll genutzt wird, dass sie zu Qualitätszeit wird. Ein kurzes intensives Gespräch ist wertvoller als gemeinsames Fernsehen, eine im Dialog mit dem Kind erfolgte Bilderbuchbetrachtung ist wertvoller als das reine Vorlesen einer Geschichte, das gemeinsame Erforschen eines Stückchens Natur ist wertvoller als ein Brettspiel. Oft kann "Qualitätszeit" auch in normalen Aktivitäten gefunden werden - z.B. bei (gelegentlichen) gemeinsamen Mahlzeiten, bei denen nicht die Zeitung gelesen wird oder der Fernseher läuft, sondern ein "gutes Tischgespräch" geführt wird.

Hier wird erneut die Bedeutung des elterlichen Vorbildes deutlich: Wenn Eltern miteinander offen und empathisch über ihre Gefühle und Gedanken kommunizieren oder wenn sie in Anwesenheit der Kinder anspruchsvolle Gespräche über Kultur, Wissenschaft und Politik führen, dann wirken sie als Verhaltensmodelle (selbst wenn Kleinkinder die Inhalte nicht verstehen). Zugleich erwerben die Kinder dank dieser Gespräche mit der Zeit einen großen Wortschatz, einen komplexen Satzbau und vielfältige Kenntnisse. Die andersartige Gesprächskultur in Akademikerfamilien ist einer der wichtigsten Gründe dafür, weshalb diese Kinder eine fast dreimal so hohe Chance haben, das Abitur zu erwerben, als Facharbeiterkinder…

Literatur

Friedrich, H.: Beziehungen zu Kindern gestalten. Weinheim, Basel: Beltz, 3. Aufl. 2003

Goleman, D.: Emotionale Intelligenz. München, Wien: Carl Hanser 1996

Kolthoff, M.: Gesprächskultur mit Kindern. klein&groß PraxisExpress. Weinheim, Basel: Beltz 2006