Glückliche Kinder
Martin R. Textor
Heute wird die Kindheit eher negativ beschrieben: Viele Kinder würden in Familien aufwachsen, in denen Streit an der Tagesordnung sei, würden das Auseinanderbrechen ihrer Familie erleben und dann in gesellschaftlich benachteiligten Teilfamilien oder zusammen mit einem "bösen" Stiefelternteil leben. Zumeist würde es sich um verwöhnte, überbehütete Einzelkinder handeln, die wenig Kontakt zu Gleichaltrigen hätten. Andere Kinder würden sie in Armut aufwachsen oder von ihren Eltern misshandelt oder gar sexuell missbraucht werden.
Die Kinder könnten heute nicht mehr draußen in ihrem verstädterten Wohnumfeld spielen, sondern würden von ihren Eltern zu Kindertageseinrichtungen, Musikschulen, Ballettstunden, Sportvereinen, Computerschulen, Nachhilfeinstituten usw. gefahren - ihre Zeit sei verplant, sie selbst würden gehetzt wirken. Zu Hause würden sie stundenlang vor dem Fernseher oder Computer sitzen bzw. sich gelangweilt mit einer Unmenge an Spielsachen beschäftigen.
So ist es kein Wunder, dass Kinder zunehmend als verhaltensauffällig oder psychisch gestört beschrieben werden. Wir halten sie für unglücklich - und als Eltern machen wir uns dafür verantwortlich, dass sie nicht mit ihrem Leben zufrieden sind. So entwickeln wir Schuldgefühle und haben Angst davor, dass uns unsere Kinder (einmal) vorwerfen (werden), ihre Kindheit sei schrecklich (gewesen).
Wie (un-) glücklich sind unsere Kinder?
Es ist nun das Verdienst von Anton A. Bucher, Professor für Religionspädagogik an der Universität Salzburg, dass er in seinem wissenschaftlichen Werk "Was Kinder glücklich macht" (siehe Literaturverzeichnis) aufzeigt, dass diese negative Sicht von Kindheit weitgehend auf Projektionen Erwachsener beruht: Wir vergleichen die heutige Kindheit mit einem (verklärten) Bild von unserer eigenen Kindheit bzw. messen sie an unseren damaligen Aktivitäten und Erfahrungen - wir ignorieren also, dass die Kinder von heute oft an ganz anderen Dingen und Tätigkeiten Gefallen finden. Lässt man nämlich die Kinder selbst sprechen, so würden sich die meisten als glücklich bezeichnen.
Die letztgenannte Aussage wird von Bucher durch den von ihm durchgeführten Salzburger Kindersurvey belegt, bei dem 1.319 Schüler/innen aus dem Bundesland Salzburg einen Fragebogen ausfüllten. Die Kinder waren im Durchschnitt 11,2 Jahre bzw. zwischen 10 und 13 Jahre alt, lebten zu 40% in Städten und besuchten verschiedene Schultypen. Schon die demographischen Angaben widersprachen der negativen Sicht heutiger Familienverhältnisse: 83% lebten mit Vater und Mutter zusammen, nur knapp 13% waren Einzelkinder, 56% wohnten in einem Einfamilien- und weitere 11% in einem Reihenhaus.
Kein einziges Kind bezeichnete seine Kindheit als traurig und nur 1% der befragten Schüler/innen als eher traurig. Hingegen bewerteten 39,3% ihre Kindheit als glücklich und sogar 54,1% als sehr glücklich (5,6% wählten die Vorgabe "nicht so glücklich"). Insgesamt 90% der Befragten fanden, dass sie "immer" oder "oft" ein gutes Leben haben; nur 13% wünschten sich immer bzw. oft, dass ihr Leben anders sei.
18,2% der Schüler/innen waren einmal und 11% mehrmals pro Woche traurig, 2,7% jeden Tag - die übrigen 68,1% aber nur einmal im Monat oder noch seltener. Traurigsein schließt zudem nicht aus, dass diese Kinder ansonsten glücklich sind: "Immerhin 20% jener, die 'jeden Tag' traurig seien, und 31% der 'mehrmals pro Woche' Bedrückten schätzten ihre Kindheit als 'sehr glücklich' ein" (Bucher 2001, S. 141). Als "jeden Tag" oder "mehrmals pro Woche" belastend wurde von den Kindern z.B. genannt, dass sie gehetzt und gestresst seien (21%), mit anderen Kindern streiten würden (16%) oder in ihrer Freizeit allein seien (14%).
Wo und wann sind Kinder glücklich?
Am glücklichsten waren die befragten Schüler/innen bei ihren Freunden (98%), gefolgt von in der Familie (über 90%) und bei den Großeltern (87%) - am seltensten glücklich waren sie hingegen beim Erledigen der Hausaufgaben (nur noch 19% "glücklich"), in der Schule (47%) und in der Kirche (34%). Freizeitaktivitäten wie Spielen, Skaten, Radfahren, Musikhören, mit Haustieren Spielen oder Unternehmungen in der Natur machten etwas glücklicher als Lesen, Zeichnen, Basteln, Fernsehen oder Beschäftigungen am Computer.
Soziodemographische Variablen wie Geschlecht, Alter, Wohnort (Stadt - Land), Wohnverhältnisse, Familienstruktur, Geschwisterzahl, (Nicht-) Erwerbstätigkeit der Mutter und besuchte Schulform - aber auch die Höhe des Taschengeldes - erklärten kaum, weshalb Kinder glücklicher bzw. unglücklicher waren. Von größerer Bedeutung für das Glücksempfinden waren Freizeitgestaltung (viel Kontakt zu Freunden, keine Langeweile), das familiale Binnengeschehen (gutes Familienklima, viele gemeinsame Aktivitäten, Anerkennung, Lob und das Gefühl, ernst genommen zu werden) und die Schulerfahrungen (freundliche Lehrer/innen, wenig Angst vor Schulaufgaben, schulischer Erfolg).
"Nun lässt sich ein empirisch abgesichertes Profil des typisch glücklichen Schulkindes zeichnen: Es wird in seiner - vollständigen - Familie häufig gelobt, erfährt Anerkennung und unternimmt mit seinen Eltern in der Freizeit viel, was aber häufiges Zusammensein mit FreundInnen und die Möglichkeit nicht ausschließt, immer ins Freie zu gehen, so dass ihm kaum fad ist; auch wird es weniger streng als vielmehr mit Argumenten erzogen und nimmt die elterliche Wohnung als groß genug wahr. Ferner macht es in der Schule mit, hat dort Erfolge und erlebt freundliche LehrerInnen und einen spannenden Unterricht, so dass es sich vor Schularbeiten kaum fürchtet. Ob Junge oder Mädchen, ob auf dem Lande oder in der Stadt wohnend, ob es Geschwister hat oder nicht, in die Kirche geht oder nicht, häufig fernsieht oder nicht, sich mit Haustieren oder mit Fußball beschäftigt, ist für sein global eingeschätztes Kindheitsglück zweitrangig" (Bucher 2001, S. 184).
"Entsprechend kann auch das Profil eines tendenziell traurigen Kindes gezeichnet werden. Ihm ist häufiger fad; es fürchtet sich - zumal vor Schularbeiten - und sitzt überdurchschnittlich lang an den Hausaufgaben; es wird streng (oft mit Schimpfen) erzogen und hört selten lobende und nette Worte; es hat weniger Freizeit und unternimmt weniger mit FreundInnen, auch nimmt es seine Wohnung als beengt wahr" (Bucher 2001, S. 185).
Konsequenzen für die Familienerziehung
Der Salzburger Kindersurvey verdeutlicht im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung, dass die weitaus meisten Kinder (im Alter von 10 bis 13 Jahren) glücklich sind - und dass wir als Eltern den größten Einfluss auf das Glückserleben unserer Kinder haben. Wenn wir
- eine gute Familienatmosphäre schaffen,
- viel mit unseren Kindern unternehmen,
- sie ernst nehmen und partnerschaftlich behandeln,
- Wertschätzung und Anerkennung zeigen,
- ihnen Mut zusprechen und sie häufig loben,
- sinnvolle Freizeitaktivitäten (Hobbys, Lesen, Beschäftigung mit Tieren) fördern,
- sie in die in der Familie anfallenden Arbeiten einbinden,
- ihnen viel Kontakt zu Freunden und Freundinnen ermöglichen und
- ihnen möglichst ein eigenes Zimmer in unserer Wohnung zur Verfügung stellen,
dann fördern wir ihr Glücklichsein. Entspricht dies nicht weitestgehend unseren Erziehungszielen? Und selbst wenn wir uns nicht immer dementsprechend verhalten - unsere Kinder akzeptieren schon, dass wir nicht perfekt sind.
Betroffen macht aber, um wie viel weniger glücklich viele Kinder in der Schule sind. Die Schulen versagen nicht nur als Bildungseinrichtungen - so verdeutlichten z.B. die TIMSS- und Pisa-Studien die schlechteren Leistungen deutscher Schüler/innen in Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen und Verstehen von Texten im Vergleich zu Schüler/innen in anderen Ländern -, sondern auch als Lebensorte, wo Kinder eigentlich glücklich sein sollten. Deutsche Jugendliche waren übrigens auch bei der Pisa-Studie weitaus häufiger als Schüler/innen aus anderen OECD-Staaten der Meinung, dass ihre Lehrer/innen sie zu wenig beim Lernen unterstützen, kaum auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen, zu oft fehlen und generell nicht am Lernerfolg aller Schüler/innen in der Klasse interessiert sind. Die Defizite unserer Schulen als Bildungs-, Erziehungs- und Lebensorte sind also offensichtlich - und seit langem bekannt.
Es bleibt zu hoffen, dass die derzeit angedachten Schulreformen nicht die emotionalen Aspekte vernachlässigen: Lehrer/innen sind nicht nur Lehrende, sondern sollten auch Erziehende sein, die Verantwortung für das Wohlbefinden und Glück der ihnen anvertrauten Kinder übernehmen. Hier sollten wir über Elternbeiräte, Verbände und Parteien politischen Druck ausüben: Das Lernen sollte unseren Kindern Freude machen, denn nur so entwickeln sie z.B. Lern- und Leistungsmotivation.
Jedoch können wir auch in unserer Familie etwas dazu beitragen, dass unsere Kinder hinsichtlich der Schule glücklicher werden. Wir sollten mehr Interesse an ihren Erfahrungen in der Schule zeigen, mit ihnen häufiger über ihre Leistungen sprechen - eher lobend und motivierend, nicht aber konstant tadelnd und Druck ausübend -, es mit den Hausaufgaben und der "Nachhilfe" nicht übertreiben. Keinesfalls sollten wir Schulstress oder Angst vor Schulversagen erzeugen.
Schlussbemerkung
Abschließend ist noch zu erwähnen, dass die Forschungsergebnisse Buchers durch andere Studien bestätigt werden. Sie zeigen übereinstimmend, dass mehr als vier Fünftel aller Kinder mit beiden Eltern und mit Geschwistern aufwachsen, dass sie draußen spielen können und sich oft mit Gleichaltrigen treffen, dass die weitaus meisten Kinder glücklich sind. Wir müssen uns also nicht sorgen, dass es unseren Kindern viel schlechter geht als uns in unserer Kindheit. Aber natürlich darf nicht ignoriert werden, dass es in unserer Gesellschaft auch unglückliche, arme, verhaltensauffällige, unter Gewalt leidende … Kinder gibt. Aber das ist ein anderes Thema.
Literatur
Bucher, Anton A.: Was Kinder glücklich macht. Historische, psychologische und empirische Annäherungen an Kindheitsglück. Weinheim, München: Juventa 2001