Verhaltensauffälligkeiten an Grundschulen: Ursachen, Erziehungsmaßnahmen, Hilfen

Martin R. Textor

 

In den letzten Jahren hat die Zahl der Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen stark zugenommen. Der Umgang mit ihnen ist inzwischen zur größten beruflichen Belastung von Lehrer/innen geworden.

Lernstörungen werden von Lauth (nach Linderkamp und Grünke 2007, S. 14) "als Minderleistungen beim absichtsvollen Wissenserwerb in einer formalisierten Lernumgebung" definiert, die deutlich unter dem Altersdurchschnitt liegen bzw. unter dem Niveau, "das aufgrund der allgemeinen intellektuellen Begabung zu erwarten ist". Die Rückstände sind so gravierend, dass nach Einschätzung der Lehrkraft "kein darauf aufbauendes Weiterlernen möglich ist" (a.a.O.).

Verhaltensstörungen werden von Linderkamp und Grünke (2007, S. 14) als "maladaptive sozial-emotionale Reaktionen und Handlungsweisen" definiert, die grob von den Erwartungsnormen abweichen, "über einen längeren Zeitraum ... mit großer Häufigkeit und hoher Intensität" auftreten, "sich in mindestens zwei Lebensbereichen äußern" und die Weiterentwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen beeinträchtigen (a.a.O.). Die Störungen sind so gravierend, dass sie ohne sonderpädagogische bzw. therapeutische Hilfe nicht abgebaut werden können.

Während es in der Psychologie mit dem DSM-IV und der ICD-10 ausgefeilte Klassifikationssysteme gibt, denen einzelne Lern- und Verhaltensstörungen zugeordnet werden können, werden in der Pädagogik umfassendere Kategorien gebildet, z.B. nach den Symptomen. So können diese

  • im körperlichen (z.B. Schlafstörungen, Nägelkauen, Einnässen),
  • im psychischen (Ängstlichkeit, Depressivität, Konzentrationsstörungen usw.) oder
  • im sozialen (Aggressivität, Delinquenz, Schüchternheit, Rückzugsverhalten) Bereich liegen.

Häufig wird auch zwischen externalisierenden und internalisierenden Formen von Verhaltensauffälligkeiten unterschieden:

  • externalisierend: hyperkinetische Verhaltensweisen (wie Zappeligkeit, hohe Ablenkbarkeit, Impulsivität) und aggressives Verhalten (wie Schlagen, Treten von Personen, Beschädigen von Gegenständen)
  • internalisierend: Trennungsängste, Kontaktvermeidung, Überängstlichkeit und ängstlich-depressives Verhalten

Hinsichtlich der Häufigkeit bestimmter Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten werden in der Literatur folgende Zahlen für Schulkinder genannt:

Lernstörungen/-probleme:

  • Lese-Rechtschreibschwäche: 2,7%
  • Rechenschwäche: 4,4-6,7%
  • allgemeine Lernschwäche (Kombination aus dem Vorgenannten): 3%
  • Lernbehinderung: 2,5%
  • Underachievement: 5-10%

Verhaltensstörungen/-probleme:

  • Störungen des Sozialverhaltens: 4-14%
  • ADHS: 3-6%
  • Ängste (Trennungsangst, soziale Angst, generalisierte Angststörung): 10%
  • Depression: 6% (Jugendalter)

Obwohl Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten in der Praxis als unterschiedlich gesehen werden, sie von zwei unterschiedlichen sonderpädagogischen Fachrichtungen behandelt werden und Psycholog/innen sie unterschiedlich klassifizieren, treten Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten in der Regel gemeinsam auf. So sind für ihre Entstehung und Aufrechterhaltung ähnliche Risikofaktoren verantwortlich, ziehen Lernprobleme oft Verhaltensschwierigkeiten nach sich - und umgekehrt.

Deshalb wird im Folgenden nur noch selten zwischen Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten differenziert, werden Unterformen weitgehend unberücksichtigt gelassen. In der Regel wird nur noch von "verhaltensauffällig" gesprochen.

Ein Kind wird in der Regel von "Autoritäten" wie Lehrer/innen als verhaltensauffällig eingestuft und von "Autoritäten" wie Ärzten, Sonderschullehrer/innen und (Schul-) Psycholog/innen als verhaltensgestört diagnostiziert. Was bedeutet dies?

  • Im ersten Fall ist die Einschätzung eher subjektiv, im zweiten Fall eher objektiv. In beiden Fällen wird das Kind an gesellschaftlichen Normvorstellungen gemessen, die sich im Laufe der Zeit ändern. Im Grunde geht es immer um ein "Passungsproblem" zwischen kindlichen Bedürfnissen und Kompetenzen auf der einen Seite und den Erziehungswelten auf der anderen Seite.
  • Die Auffälligkeit bzw. Störung wird am Kind festgemacht. Es findet eine "Etikettierung" oder ein "Labeling" statt.
  • Sofern es keine organischen Ursachen wie z.B. eine Lernbehinderung oder eine langwierige Krankheit gibt, wird dem Kind die Schuld für seine Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten zugeschrieben. Es wird insbesondere bei jüngeren Kindern ignoriert, dass für den Lernerfolg und das Verhalten Lehrer/innen und Eltern verantwortlich sind - und dass in früheren Jahren in Schule und Familie Versäumtes dazu führt, dass aus Auffälligkeiten Störungen werden. Und gerade diese Personen beurteilen und etikettieren das Kind!
  • Aufgrund von dieser Zuschreibung werden bei anderen Menschen eher Bestrafungs- als Hilfeimpulse ausgelöst.

Diese Vorgehensweise wird als individuumsorientierter Ansatz bezeichnet: Der Fokus richtet sich auf die verhaltensauffällige Person, die stigmatisiert oder als Sündenbock gesehen wird. Der Erziehungserfolg ist eher gering, da viele Problemursachen übersehen werden.

Stattdessen wird heute zumeist ein systemischer Ansatz propagiert: Hier wird das verhaltensauffällige Kind als Mitglied mehrerer (Sub-) Systeme gesehen, in denen es mit verschiedenen Erwartungen, Regeln, Rollen, Beziehungsdefinitionen, Interaktionsmustern, Einstellungen, Normen usw. konfrontiert wird und in denen es sich dementsprechend unterschiedlich verhält. Die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten können in allen Systemen und Subsystemen oder in deren Interaktion liegen. Deshalb ist eine umfassende Analyse notwendig. Nur wenn Erziehungsmaßnahmen oder andere Interventionen dort erfolgen, wo die Ursachen liegen, können sie erfolgreich sein. Allerdings grenzen sich Systeme gegenüber Außenstehenden ab, sodass Lehrer/innen z.B. wenig Einblick in die Familien oder Peergroups verhaltensauffälliger Schüler/innen haben. Dementsprechend sind Interventionen in fremde Systeme schwerer als solche in das eigene System.

Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten

Der Mensch ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen. So muss man bei der Suche nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten von einem der Wirklichkeit entsprechenden ganzheitlichen Menschbild ausgehen, also somatische, emotionale und psychische Faktoren berücksichtigen.

Der Mensch lebt aber nicht isoliert, sondern - wie gerade erwähnt - in verschiedenen Systemen. Deshalb muss eine ganzheitliche Betrachtung auch Einflüsse von Familie, Schule, Peers, Lebenswelt usw. berücksichtigen. Sucht man nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten, ist somit grundsätzlich von ihrer Multikausalität auszugehen.

Ursachen im Kind:

  • durch Suchtmittelmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft bedingte Schädigungen
  • Geburtsschäden, Frühgeburt
  • langwierige Krankheiten, Schädel-Hirn-Trauma, Entwicklungsverzögerungen, Unterernährung, (unerkannte) Behinderungen
  • ADHS: Das für die Regulation bzw. das Zusammenwirken von Motivation, Kognition, Emotion und dem Bewegungsverhalten verantwortliche Frontalhirn ist erst bei 10- bis 11-jährigen ADHS-Kindern ausgereift - und nicht wie sonst bei 7- bis 8-Jährigen. Das für zielgerichtetes Verhalten zuständige Striatum (ein Teil der Basalganglien) ist bei Jungen mit ADHS unterentwickelt.
  • unsichere Bindungserfahrung -> Vorsicht, Misstrauen, Stimmung des "dysfunktionalen Ärgers" (negative Erwartungshaltung gegenüber der Welt)
  • Häufige Erfahrungen von Zurückweisung und Aggressivität lassen Kinder auch in zweideutigen Situationen eher aggressiv reagieren - und werden dann wieder aggressiv behandelt: Kreislauf
  • Informationsverarbeitung und -bewertung: Welt als Ort latenter Bedrohungen -> Aggressivität <-> Angst, Vermeidung, Rückzug
  • Gefühle von Unwohlsein, Hilflosigkeit und Verletzlichkeit -> kompensiert durch aggressives Verhalten: Gefühl, die Situation zu kontrollieren (Selbstwirksamkeit)
  • Aggressive Kinder glauben, dass Aggressionen zu Anerkennung durch andere, einem höheren Selbstwertgefühl und anderen positiven Gefühlen führen (Medienvorbilder!). Schätzen aggressives Verhalten als effektiv ein.
  • Aggressiven Kindern mangelt es an Strategien zur Regulierung von Emotionen; sie können sich nicht selbst beruhigen, zeigen erhöhte Irritabilität und gestörte Impulskontrolle.
  • "ängstliches" Temperament, ausgeprägte Emotionalität, leicht auslösbare Erregbarkeit -> vermeidender Bewältigungsstil; keine sozialen Fertigkeiten und Strategien für den Umgang mit als bedrohlich erlebten Situationen
  • Hyperaktivität: zappeliges Verhalten -> Aufmerksamkeit Dritter ->Erfahrung der Situationskontrolle -> mehr zappeliges Verhalten
  • "schwieriges" Temperament, Reizbarkeit, Überempfindlichkeit, geringe Frustrationstoleranz
  • Überforderung, permanente Misserfolge, Überspielen mangelnder Fähigkeiten
  • Unterforderung, Langeweile, Frustration
  • mangelnde Lern- und Leistungsmotivation, Mangel an Antriebskraft
  • zu hohe Erwartungen an sich, Inkongruenz zwischen Selbstbild und Idealbild
  • negatives Selbstbild, kein Selbstvertrauen
  • intrapsychische Konflikte, psychische Überforderung (z.B. aufgrund der Familiensituation), Ängste aufgrund von Traumata
  • Auffälligkeiten körperlicher Art, bei Kleidung, Unsauberkeit, Körpergeruch
  • Egozentrismus, Streben nach Aufmerksamkeit, muss immer im Mittelpunkt stehen
  • Erlernen auffälliger Verhaltensweisen durch Nachahmung, keine Verstärkung positiven Verhaltens (aber von Auffälligkeiten)

Ursachen in der Familie:

  • Eltern mehr oder minder stark gestört (z.B. depressiv, gewalttätig, suchtkrank)
  • Kommunikationsstörungen (z.B. Inkongruenz, Disqualifizierung)
  • problematische Erziehungsstile: Verwöhnung, Überbehütung, autoritäre Erziehung, antiautoritäre Erziehung, inkonsistente (wechselhafte) Erziehung
  • unzureichende Erfüllung der erzieherischen Funktion, keine/unklare Regeln/Grenzen, keine Konsequenzen bei Regelverletzung
  • zu viel Medienkonsum
  • Mangel an positiver Verstärkung, Verstärkung problematischer Verhaltensweisen
  • ängstliche Eltern: überengagierter Erziehungsstil, wollen Kind vor allem Gefahren schützen, häufige verbale Instruktionen: "Das ist gefährlich!", ängstliches Modellverhalten -> ängstliches Kind, Vermeidungsverhalten gesteigert, kein Selbstvertrauen
  • unzureichende emotionale Akzeptanz, Fehlen einer positiven Anteilnahme, Ablehnung des Kindes (z.B. weil Selbstverwirklichung behindert), verdeckte Feindseligkeit, Projektion, körperliche und/oder psychische Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch
  • ADHS: in frühster Kindheit gescheiterte interaktive Regulationserfahrung: überstimulierendes und intrusives Verhalten der Eltern, mangelnde Unterstützung bei der Strukturierung von Wahrnehmungen/ Handlungen, unstrukturierte Umgebung, Reizüberflutung
  • Indifferenz gegenüber dem Lernen, mangelnde Stimulierung, keine positive Verstärkung, keine Hausaufgabenkontrolle, keine Bücher im Haushalt, kein Vorlesen/ Erzählen
  • Eltern schlechte Vorbilder: lesen nicht, bilden sich nicht weiter, wenig Interessen, schlechter Sprachstil, geringe Kommunikationsdichte
  • zu hohe/ unrealistische Anforderungen,
  • Konkurrenzsituation zwischen Geschwistern, Schulleistungen von (älteren) Geschwistern verklärt
  • gestörte Struktur: Loslösung, Verstrickung, symbiotische Beziehung (Trennungsängste), Kind als Ersatzpartner, zu große Macht der Kinder, Parentifizierung eines Kindes
  • Ehekonflikte Þ Schuldgefühle bei Kindern, Ablenkung der Eltern von ihren Konflikten durch auffälliges Verhalten, Kind hat Funktion eines Sündenbocks/ Verbündeten/ Vermittlers. Nach Trennung/ Scheidung der Eltern Ausagieren von Verzweiflung, Angst und Trauer
  • außereheliche Beziehungen
  • große Familienbelastungen: stark gestresste Eltern (Vollzeiterwerbstätigkeit, Wiedereintritt der Mutter in die Arbeitswelt), Probleme am Arbeitsplatz, Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, Versorgung eines Behinderten bzw. Pflegebedürftigen, Migrationshintergrund, Flüchtlingsstatus, soziale Isolation
  • Einmischung von Dritten in Familie (z.B. Großeltern, Liebhaber, Sozialarbeiter)
  • beengte Wohnverhältnisse (keine Intimsphäre, keine Ruhe, ständig laufender Fernseher)

Ursachen in der Schule:

  • Unterforderung, Langeweile
  • Überforderung, permanente Misserfolgserlebnisse, Frustrations-Aggressions-Theorie
  • Konzentration auf bildende Aktivitäten, Ignorieren der sozialen, emotionalen und Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/innen, kein "Mut zur Erziehung"
  • uninteressanter, wenig schülerangepasster Unterricht, kaum Einbeziehung der Schüler/innen in Gestaltung
  • wenig abwechslungsreicher Tagesablauf, zu wenig Bewegung, zu wenige Entspannungsphasen
  • wenig persönlicher Kontakt zu einzelnen Schüler/innen, keine Anteilnahme/ Empathie, keine Interesse an Person -> keine Beziehung zu Kindern
  • problematischer Erziehungsstil (laissez-faire, autoritär usw.), abwertende Reaktionen gegenüber Schüler/innen
  • keine/ unklare Regeln/ Grenzen, keine Konsequenzen bei Regelverletzung, zu spätes Eingreifen, kein Aufrechterhalten von Ruhe und Ordnung, kein Vertreten von Werten
  • Antipathie, sich selbst erfüllende Prophezeiungen, "Etikettierung", Vorurteile gegenüber einem Kind, Stigmatisierung aufgrund Herkunft/ sozialer Lage
  • ungeschicktes Reagieren auf verhaltensauffällige Schüler/innen, Verstärkung von Verhaltensauffälligkeiten durch Aufmerksamkeit und Zuwendung
  • ungenügende Ausbildung in Beobachtungsmethoden, diagnostischer Abklärung und Techniken der Verhaltensveränderung; fehlende Kenntnisse aus dem Bereich der Heil- und Sonderpädagogik, keine Qualifizierung in Gesprächsführung/ Elternberatung
  • Häufung von Schüler/innen mit besonderen Bedürfnissen in sozialen Brennpunkten
  • Lehrplan: Stoffüberflutung, wenig Spielräume, Zeitdruck
  • Rahmenbedingungen: zu große (anonyme) Schule, zu große Klassen, zu kleine Räume, sehr kleiner oder unattraktiver Pausenhof, keine Schulaktivitäten wie Feste/ Schulmannschaften/ freiwillige Arbeitsgemeinschaften usw.
  • chronische Konflikte im Kollegium (z.B. unterschiedliche Unterrichtsstile, Mobbing), Außenseiterposition, kein Besprechen von Problemfällen, mangelnde Unterstützung durch Kollegen/ Vorgesetzte
  • starke persönliche/ familiale Belastungen der Lehrkräfte (Burnout, großer Haushalt mit mehreren Kindern oder einen pflegebedürftigen Elternteil, Trennungssituation, Alleinerzieherschaft, großes ehrenamtliches/ gesellschaftspolitisches Engagement usw.)

Ursachen in den Peer-Beziehungen:

  • keine Atmosphäre in der Klasse, kein Zusammenhalt, keine Gruppenidentität
  • Konkurrenzkampf
  • negative Vorbilder
  • Ablehnung aufgrund bestimmter Charakteristika (z.B. nicht vorhandene Sprachkenntnisse, "abstoßende" Körpermerkmale, mangelnde Hygiene, Unbeholfenheit), Diskriminierung
  • Mobbing, Brutalität
  • Kind isoliert, Außenseiter, keine Freunde, Einsamkeit
  • Kind als Anführer (Streben nach Achtung, Macht, Bewunderung durch andere)
  • Versuch, durch auffällige Verhaltensweisen (Gewalt, Clownerie usw.) die Aufmerksamkeit der Gleichaltrigen auf sich zu ziehen
  • Rollenzuweisung (Gruppenclown, Sündenbock, "Schlafmütze", "Heulsuse"), Mobbing

Ursachen in der Beziehung zwischen Familie und Schule:

  • keine Kontakt zwischen Lehrer/in und Eltern (z.B. da keine Verständigung möglich, wegen Schwellenangst/ übertriebener Geduld/ grenzenlosen Vertrauens)
  • Lehrer/innen legen keinen Wert auf Elternarbeit (ungünstig gelegene Sprechstunden, Eltern werden wie Störenfriede behandelt, kurze Gesprächsdauer)
  • Eltern behandeln Lehrer/in herablassend, fühlen sich überlegen, wissen alles besser <-> umgekehrt (herablassende Redeweise, wissenschaftliche Fachausdrücke, bloße Kritik)
  • Konflikte zwischen Lehrer/innen und Eltern (unterschiedliche Erwartungen, andere Erziehungsstile, wechselseitige Vorurteile, Wertkonflikte, wechselseitiges Misstrauen)
  • Ablehnung der Schule (Eltern haben in Schule versagt); stellvertretende Befriedigung, wenn Kind gegen verhasste Autoritäten rebelliert
  • Ablehnung des Lehrers, weil er das eigene (so geliebte) Kind ablehnt
  • Konflikte hinsichtlich der Problemdefinition und der richtigen Vorgehensweise (zwischen Lehrer/in und Eltern oder mit Schulpsychologe, Beratungslehrerin, Sonderpädagoge usw.)
  • Konflikte mit Elternvertretung, Schulamt, Rechtsanwälten

Ursachen in größeren Systemen:

  • keine Spielflächen im Umkreis der Wohnung, gefährliche Wohnumgebung
  • zunehmende Flüchtigkeit sozialer Beziehungen
  • benachteiligte soziale Milieus (schichtspezifisch: Sprachstil, Einstellungen, Interessen, Verhalten, Mediennutzung usw.)
  • gesellschaftliche Desintegrationsprozesse
  • andere Kultur (Diskriminierung)
  • Leben im sozialen Brennpunkt, Randgruppensituation

Verhaltensauffälligkeiten haben zumeist mehrere Ursachen, die oft in verschiedenen Systemen liegen. Sie haben häufig eine bestimmte Funktion im jeweiligen System (z.B. Erhalt der Homöostase). Somit sind Verhaltensauffälligkeiten eine Reaktion auf gestörte Systemprozesse und -strukturen. Es handelt sich also im Grunde um ein adaptives Verhalten!

Wie schon am individuumsorientierten Ansatz verdeutlicht, tendieren Menschen dazu, nur bestimmte Ursachen - z.B. im Kind liegend, in der Familie, in der Gesellschaft - zu fokussieren. Das hängt u.a. von der Alltagstheorie bzw. von dem während der Ausbildung erworbenen Erklärungsmodell ab, aber auch vom Schwerpunkt der beruflichen Arbeit. Es ist somit wichtig, immer wieder Standpunkt und Perspektive zu wechseln, um alle Aspekte der Problematik und Ursachen in verschiedenen Systemen zu erfassen!

Beobachtung von verhaltensauffälligen Kindern

Verhaltensauffällige Schüler/innen sollten genau und in verschiedenen Situationen beobachtet werden (in der Klassengemeinschaft/ Kleingruppe, bei unterschiedlichen Aktivitäten usw.). Im Vordergrund sollte die stärken- und ressourcenorientierte Beobachtung stehen: Hier konzentrieren Lehrer/innen sich nicht auf das problematische Verhalten, sondern streben nach einem umfassenden Bild von dem Kind, seinem Entwicklungsstand und seinen sozialen Beziehungen, seinen Stärken und Schwächen, seinen Kompetenzen und seinen Potentialen. Auch die eigenen Ressourcen und die von Mitschüler/innen werden berücksichtigt.

Vor diesem Hintergrund werden dann Situationen genauer betrachtet, in denen Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Dabei geht es um die Analyse des eigenen Verhaltens gegenüber dem Schüler (vor, während und nach dem auffälligen Verhalten) und des Kontextes (z.B. der Situationen, in denen Verhaltensauffälligkeiten auftreten; Interaktionen der Kinder vor, während und nach dem auffälligen Verhalten; Reaktionen der Mitschüler/innen). Das Ergebnis sind konkrete Ereignisbeschreibungen (genaue Darstellung der Situation) oder genaue Verlaufsprotokolle (zeitlicher Ablauf).

Wichtig ist, nach mehr Objektivität durch Mehrperspektivität zu trachten. Dies wird erreicht, wenn mehrere Lehrer/innen ihre Beobachtungen eines Kindes miteinander vergleichen. Bei Unsicherheiten können auch Instrumente wie z.B. Beobachtungsbögen und Einschätzskalen verwendet werden. Diese sollten jedoch erst relativ spät eingesetzt werden, da sie defizitär orientiert sind (also auf Probleme fokussieren) und den Blick rein auf den Schüler lenken (individuumszentrierte Sichtweise: Pathologisierung des Verhaltens, Stigmatisierung).

Das Ergebnis der Beobachtungen sollte eine objektive, nicht wertende Problembeschreibung vor dem Gesamtbild des Schülers und seiner sozialen Umwelt sein.

Danach werden die Ursachen der Verhaltensauffälligkeit in den verschiedenen Systemen gesucht und nach dem Sinn bzw. Nutzen des jeweiligen Verhaltens für das Kind gefragt ("Was erreicht es dadurch?" - Aufmerksamkeit, Zuwendung, Macht...). Was ist seine "Botschaft"?

Dabei besteht die Gefahr der Subjektivität: Zum einen werden leicht Ursachen "übersehen", die mit der Person, dem Unterricht oder dem Erziehungsverhalten der jeweiligen Lehrerin zusammenhängen. Zum anderen hat man letztlich wenig Einblick in die Lebenswelten des Kindes außerhalb der Schule. So ist nur schwer einzuschätzen, ob dort (welche) Ursachen liegen, bzw. besteht die Gefahr, dass man z.B. Ursachen in die Familie "hineinprojiziert". Deshalb sollte möglichst frühzeitig Kontakt mit den Eltern aufgenommen werden.

Das Gespräch mit den Eltern

Die Eltern werden so früh wie möglich über das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten informiert. Vor dem Gespräch sollte sich die Lehrerin die eigenen Gefühle reflektieren. Werden die Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten in der Familie vermutet, muss sie sich bewusst machen, dass sie nicht das erzieherische Verhalten der Eltern oder deren Beziehung zum Kind verändern kann, sondern dass diese selber aktiv werden müssen. Eltern sind am ehesten offen für eine Reflexion der Familienerziehung oder für Ratschläge, wenn sie sich akzeptiert und verstanden fühlen.

Die Lehrkraft geht zu Beginn des Gesprächs auf die positiven Seiten des Schülers ein: Eltern erfahren auf diese Weise, dass ihr Kind in der Schule auch positiv wahrgenommen und "gemocht" wird; der Schüler wird nicht auf seine Auffälligkeiten "reduziert" (keine Defizitorientierung!).

Wird dann die Verhaltensauffälligkeit angesprochen, muss die Lehrkraft damit rechnen, dass sich viele Eltern "angegriffen" oder in ihrer erzieherischen Kompetenz "verletzt" fühlen. Deshalb sollte sie behutsam vorgehen, die Auffälligkeiten als subjektiven Eindruck schildern (Ich-Botschaften!) und möglichst beschreibend (nicht interpretierend) darstellen (z.B. anhand von Beobachtungsprotokollen).

Dann fragt die Lehrkraft:

  • "Ist das Kind auch in der Familie verhaltensauffällig?" (Häufigkeit, Dauer, Intensität)
  • "In welchen Situationen?" (Verlaufsanalyse!)
  • "Wie reagieren Sie dann?"
  • "Wann traten die Probleme erstmals auf?"

Dann werden Hintergrundinformationen erfasst: Wie verlief die bisherige Entwicklung des Kindes? Wie verhält sich das Kind daheim? Wie wird es erzogen? Wie sind die Familienverhältnisse? Gibt es besondere Belastungen?

Erleben die Eltern Erziehungsschwierigkeiten oder akzeptieren sie, dass ihr Kind (nur) in der Schule verhaltensauffällig ist, kann mit ihnen gemeinsame nach den Ursachen gesucht werden. Dabei sollte die Lehrkraft akzeptieren, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt - und dass man mehr Objektivität durch den Vergleich verschiedener Perspektiven erreicht.

Im Idealfall stimmen am Ende des Gesprächs Lehrer/in und Eltern hinsichtlich der Problemdefinition überein, haben gemeinsam die wichtigsten Ursachen erfasst und sind bereit, bei deren Behebung miteinander zu kooperieren.

Feststellungsdiagnostik

In Einzelfällen ist eine ärztliche (kinderpsychiatrische) Abklärung der Lernstörung oder Verhaltensauffälligkeit vonnöten, insbesondere wenn somatische Ursachen vermutet werden. Auch kann mit einer Sonderschule oder Erziehungsberatungsstelle Kontakt aufgenommen werden, wenn Unklarheit hinsichtlich des Störungsbildes oder des Förderbedarfs besteht. Oft reicht eine anonyme Fallbesprechung; sie muss anonym sein, wenn keine Erlaubnis der Eltern zur Kontaktaufnahme mit psychosozialen Diensten vorliegt.

Nur Psycholog/innen, Sonderpädagog/innen und Ärzte sind qualifiziert, Diagnosen zu erstellen. Wird eine besondere Problematik und ein spezifischer Förderbedarf festgestellt (oder wird das Jugendamt aktiv), sollten sich Lehrer/innen über das sonderpädagogische bzw. förderdiagnostische Gutachten oder den individuellen Hilfe- bzw. Erziehungsplan von den Eltern informieren lassen bzw. mit deren Erlaubnis für sie relevante Inhalte erfragen.

Bei Fördermaßnahmen außerhalb der Grundschule erfolgt in der Regel eine prozessbegleitende Diagnostik: Es werden konkrete Ziele festgelegt, ihnen entsprechende therapeutische oder sonderpädagogische Maßnahmen durchgeführt und immer wieder deren Erfolg überprüft. Auch darüber sollte die Lehrkraft von den Eltern oder mit deren Erlaubnis von den Therapeut/innen bzw. Heilpädagog/innen informiert werden.

Planung des weiteren Vorgehens

Hat die Lehrkraft ein stärken- und ressourcenorientiertes Gesamtbild des jeweiligen Schülers gewonnen, hat sie die Situationen genauer analysiert, in denen die Verhaltensauffälligkeiten auftreten, und ist sie sich weitgehend über die Ursachen im Klaren, kann sie sich Ziele hinsichtlich des weiteren Umgangs mit dem Kind setzen:

  • Was braucht der Schüler? (Bedürfnisse)
  • Welches Verhalten soll abgebaut werden?
  • Welche Verhaltensweisen sollen neu gelernt werden oder häufiger auftreten?
  • Wie möchte ich mich zukünftig dem Schüler gegenüber verhalten?

Dann kann die Lehrkraft einen Handlungsplan entwickeln:

  • Auf welche Weise könnte ich die Ziele erreichen? (Veränderung des eigenen Verhaltens, Einsatz besonderer erzieherischer oder sonderpädagogischer Maßnahmen, Nutzung von Ressourcen der Mitschüler/innen usw.)
  • Wie kann ich auf Systeme einwirken, in denen Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten liegen? Welche Ressourcen kann ich dort nützen?
  • Mit wem muss ich kooperieren, wessen Unterstützung benötige ich?

Der nächste Schritt ist dann die Umsetzung des Handlungsplans. Treten in dieser Phase Probleme auf, sind oftmals weitere Beobachtungen nötig, muss die Suche nach möglichen Ursachen fortgesetzt werden, können weitere Gespräche mit relevanten Personen sinnvoll sein usw. Zum Schluss folgt die Evaluation: Sind die Verhaltensauffälligkeiten bzw. Lernstörungen (weitgehend) "verschwunden"?

Prävention

Prinzipiell sollten Lehrer/innen danach trachten, generell das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten zu verhindern bzw. zu reduzieren, indem mögliche Ursachen ausgemerzt und positive Entwicklungsbedingungen geschaffen werden. Dazu müssen zunächst der eigene Unterricht und die Erziehung der Schüler/innen analysiert werden:

  • gründliche Situations- und Bedarfsanalyse: Das heißt: "Kenne" ich wirklich jedes einzelne Kind in meiner Klasse, seinen Entwicklungsstand, seine Bedürfnisse und Interessen? "Kenne" ich alle Eltern, ihre Erziehungsvorstellungen, eventuelle Belastungen und Familienprobleme?
  • Rolle und Identität: Wie definiere ich meine Aufgaben? Welche Einstellungen bezüglich meines Berufs habe ich? Brauche ich mehr "Mut zur Erziehung"?
  • Qualität des Unterrichts: Wie kommt er bei meinen Schüler/innen an? Spreche ich jedes einzelne Kind an?
  • Kontext: Ist der Klassenraum ungemütlich? Ist der Pausenhof unattraktiv gestaltet? Gibt es für das einzelne Kind Rückzugsbereiche?
  • Welche Faktoren in meiner Klasse könnten zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten beitragen? Ignoriere ich einzelne Schüler/innen (z.B. schüchterne Kinder, weil sie keine Probleme machen)? Widme ich einigen Kindern zu viel Aufmerksamkeit (z.B. "Problemkindern")? Begegne ich einzelnen Schüler/innen mit Voreinstellungen oder gar Vorurteilen? Achte ich zu wenig auf das Einhalten von Regeln?

Positive Entwicklungsbedingungen für Schüler/innen sind:

  • ein abwechslungsreicher, vielseitiger und interessanter Unterricht (auch Projekte), Orientierung an der "Psychologie" der Lernenden (ihren Interessen, ihrem Erleben, ihrem Umfeld)
  • transparente Anforderungen und Maßstäbe (Gerechtigkeit)
  • lehrer- und schülerzentrierte Phasen nach Tages- bzw. Wochenplan, Wahlmöglichkeiten
  • Differenzierung/Individualisierung: Variation der Aufgaben in Anzahl und Niveau, differenzierende Unterrichtsmaterialien, persönliche tutorielle Lernunterstützung, freie Aufgaben für besonders gute Schüler/innen
  • Kleingruppenarbeit: mehr Mitarbeit, peer-tutoring (auch durch aggressive Schüler!) möglich, besser zur Integration ängstlicher, schüchterner und entwicklungsverzögerter Schüler/innen
  • Lernzentren in der Klasse: naturwissenschaftlicher, künstlerischer, literarischer Bereich für Einzel-, Partner- und Kleingruppenarbeit; Stationen-Lernen
  • Entschärfen von "Risikosituationen": kein langer Lehrervortrag; wer Aufgabe schon gelöst hat, darf malen oder ein Puzzle legen
  • das Bindungsangebot der Grundschüler annehmen -> persönliche Beziehungen eingehen; Zeit haben für Kinder, z.B. nach dem Unterricht noch in dem Klassenraum verweilen
  • Lehrkräfte, die auf die Schüler eingehen, viel mit ihnen reden und ihnen Mitbestimmungsmöglichkeiten einräumen, verhindern, dass Kinder auffallen müssen, wollen sie gehört oder beachtet werden
  • Klasse als komplexen Sozialraum voll dynamischer Beziehungen sehen: Lernen durch Interaktion und Dialog, statt Fremdbestimmung Partizipation der Schüler/innen
  • Förderung von Forschungsdrang, Selbsttätigkeit, ungestörtem Spiel usw.
  • Strukturgebung (Strukturen bieten Orientierung und Sicherheit; bes. wichtig bei ADHS): mit Schüler/innen Regeln aufstellen, Rituale einführen
  • eindeutige Regeln, Verständnis für Regeln wecken, Aufrechterhalten der Regeln, sofortige Reaktion bei Überschreitung von Grenzen -> Konsequenz und Verlässlichkeit der Lehrkraft
  • Social skill-Unterricht: Gespräche zu Themen wie Gefühle haben und wahrnehmen, begründete und unbegründete Ängste, Stärken und Schwächen (Hilfsbedürftigkeit), Konflikte und Probleme lösen (Mediation), auf Aggressivität richtig reagieren, einander helfen
  • Konflikte als Lernchance begreifen, statt viel Energie auf Kontrolle zu verwenden: über passives und aktives Zuhören aufgreifen (Kinder fühlen sich akzeptiert, Gespräch wird möglich), eigene Befindlichkeit als "Ich-Botschaften" senden
  • Konflikte: Spannungsentschärfung durch Humor
  • im Verlauf des Tages Gelegenheiten zum "Austoben" (Gruppenspiele, Sport, Tanz, Rhythmik usw.) und zur Ruhe geben (Musik hören, Vorlesen, Malen, Mandalas, Meditation)
  • Klassenatmosphäre verbessern: Raum schön und "gemütlich" ausgestalten, Geburtstage/ Feste feiern
  • Gewaltfreiheit auf dem Pausenhof, beim Weg zum Schulbus und im Bus sicher stellen

Wichtig ist auch das Vorbild der Lehrerin, also z.B. ihr Modellverhalten gegenüber schüchternen, traurigen oder sehr unruhigen Schüler, bei Streit und Konflikten. Ferner wirkt eine gute Elternarbeit präventiv. So sollte die Lehrkraft den Kontakt mit Eltern suchen, Vertrauen aufbauen, Erfahrungen austauschen und Erziehungsmaßnahmen abstimmen.

Zum Umgang mit verhaltensauffälligen Schüler/innen

Sonderpädagogik und Schulpsychologie verwenden heute vorzugsweise psychotherapeutische Ansätze bei Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen. Aufgrund dieser "Therapeutisierung" können sich Lehrer/innen an allgemeinbildenden Schulen nur noch sehr begrenzt an den Verfahren und Methoden der Heilpädagogik orientieren. Auch gibt es keine Patentrezepte oder "Förderprogramme", mit denen sich Verhaltensauffälligkeiten oder Lernstörungen beheben lassen.

Prinzipiell gilt: Je früher eingegriffen wird, umso leichter lassen sich in der Regel die Auffälligkeiten reduzieren! Vor allem ist eine intensive Beziehungsarbeit nötig, durch die eine Art helfendes Milieu geschaffen wird. Dies setzt eine besondere Zuwendung und Anteilnahme sowie Vermittlung des Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit voraus.

Besonders wichtig ist also der Aufbau einer tragfähigen und haltgebenden Beziehung zum verhaltensauffälligen Kind. Dies ist oft schwierig, da solche Kinder häufig keine sichere Bindung zu ihren Eltern (kein "Urvertrauen") haben oder glauben, dass Erwachsene ihnen gegenüber feindselig eingestellt sind. Ferner haben Lehrer/innen schlechte Vorerfahrungen mit solchen Schüler/innen gemacht, müssen sich also zunächst von negativen Gefühlen ihnen gegenüber distanzieren und wieder ihre Stärken und liebenswerten Seiten sehen. Der Aufbau einer haltgebenden Beziehung ist somit ein langwieriger Prozess, der sich vor allem in kurzen, aber häufigen Interaktionen vollzieht, in denen die Lehrkraft auf das Kind zugeht, Interesse äußert, aktiv zuhört, empathisch reagiert usw. Sie zeigt einerseits Wertschätzung bezogen auf die Person des Schülers, reagiert aber andererseits konsequent auf seine Verhaltensauffälligkeit.

Wichtig ist, dass verhaltensauffälligen Schüler/innen neue Erfahrungsräume erschlossen werden:

  • Die Psychomotorik bietet Schüler/innen über die Bewegung einen konkret erlebbaren Freiraum an, kanalisiert das Bewegungsbedürfnis und fördert die Verhaltensregulation (Einsatz von "Gaspedal und Bremse"). Sie können sich einerseits abreagieren und andererseits entspannen.
  • Im Spiel mit dem verhaltensauffälligen Kind können seine Bedürfnisse erkannt, Verhaltensalternativen angeboten und (soziale) Kompetenzen geschult werden. Die Lehrkraft begegnet ihm auf einer anderen Ebene und erlebt andere Seiten des Kindes. Zugleich kann sie ihm leichter mit Wertschätzung, Echtheit, Empathie und Akzeptanz begegnen.
  • Im Rollenspiel können Schüler/innen lernen, intensive Emotionen zu verarbeiten, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und Konflikte konstruktiv zu lösen. Sie differenzieren zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung (dank Rollentausch).
  • Kunst setzt heilende Kräfte durch das schöpferische Gestalten frei. Hier können sich Identität, Gefühle und Probleme des Kindes äußern. Sinnvolle Aktivitäten sind z.B. Malen zu Musik, Gruppenplastik, Tonen, Theaterspiel und Pantomime.
  • Musik beruhigt, steigert die Konzentrationsfähigkeit und verbessert die Stimmungslage. In der Verbindung mit Tanz und Bewegung werden soziale Kommunikation und Integration gefördert. Emotionen können mit Hilfe von Instrumenten ausgedrückt werden (Improvisationen).
  • Autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Meditation, Yoga, Malen von Mandalas usw. bauen Anspannung und Verkrampfung ab und führen zu Konzentration.

Ferner gibt es viele Möglichkeiten, wie das Auftreten auffälliger Verhaltensweisen reduziert werden kann, zum Beispiel:

  • Besonders unruhige Schüler/innen werden so platziert, dass sie nicht abgelenkt werden oder durch Berühren beruhigt werden können.
  • Beobachten Lehrer/innen, dass einem aggressiven Verhalten Angst, Erregtheit und Unruhe vorausgehen, können sie in dieser Phase die Schüler/innen ablenken, indem sie sie z.B. ansprechen oder in Aktivitäten einbeziehen.
  • Streiten sich zwei Kinder häufig, können sie z.B. an weit entfernte Tische platziert werden.

Weitere sinnvolle Erziehungsmaßnahmen sind beispielsweise:

  • Verhaltensauffällige Schüler/innen positivere Erfahrungen mit Erwachsenen, anderen Kindern und sich selbst machen lassen: Dann zeigen sie aufgrund dieses Feedbacks zunehmend Verhaltensweisen, mit denen sie positive Reaktionen von anderen Menschen hervorrufen können!
  • statt Lernschwächen zu fokussieren, Kind in seinen Kompetenzbereichen fördern: Erfolgserlebnisse, Selbstvertrauen, mehr Lern- und Leistungsmotivation
  • Auf Schüler/innen, die dem Lehrer gegenüber ängstlich sind, zugehen, ihr Vertrauen zu gewinnen versuchen. Ihnen Aufgaben übertragen, die sie bewältigen können; dann Anerkennung zeigen
  • Psychoedukation: Gespräche über das Erscheinungsbild normaler und pathologischer Ängste, über die Komponenten Körpersymptome/ Gedanken/ Verhalten, über die Ursachen von Angst und mögliche Bewältigungsstrategien. Dies hilft dem Kind, angstfördernde Gedanken zu erkennen, zu überprüfen und zu verändern bzw. durch alternative, hilfreiche Gedanken zu ersetzen (Selbstinstruktion).
  • Ängstlichen Schüler/innen einen "Mutmachstein" geben und Kindergeschichten wie Pipi Langstrumpf lesen lassen
  • Integration von Außenseitern und sozial ängstlichen Kindern in Kleingruppen mit besonders sozialen Mitschüler/innen: Erfahrung, dass sie von anderen akzeptiert werden; Lernen am Modell der Mitschüler
  • Da aggressive Kinder leicht reizbar und impulsiv sind, durch Entspannungsverfahren motorische Ruhe aufbauen lassen.
  • Da aggressive Kinder die Welt als bedrohlich erleben, helfen, soziale Prozesse, Hinweisreize anderer Personen, deren Emotionen usw. wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. So lernen sie, die Folgen ihres Verhaltens vorauszusehen.
  • Förderung alternativer Verhaltensweisen: Kooperation, Hilfsbereitschaft, Empathie, Selbstkontrolle
  • Aufgrund der sehr hohen Dynamik bei aggressiven Kindern rasch und flexibel auf die ersten Anzeichen von Verhaltensauffälligkeiten reagieren: z.B. auf Regeln hinweisen ("Wir lösen unsere Konflikte, indem wir miteinander reden!"), Grenzen setzen ("Hört sofort auf, euch zu schlagen!"), ein anderes Verhalten "vorschreiben" ("Martin, löse noch folgende Aufgabe!"), Konsequenzen androhen, Drohungen wahr machen (ohne dabei selbst aggressiv zu werden und ohne die Person des Kindes abzuqualifizieren: es bleibt "okay").
  • Eingriff durch vereinbarte Signale: Lehrer als externes Ego
  • Mobbing und Brutalität wahrnehmen und reagieren
  • Wenn ein Kind extrem ausagiert, ist es vorrangig, es zu isolieren und die anderen Schüler/innen vor ihm zu schützen. Da Aufmerksamkeit ein störendes oder aggressives Verhalten verstärken kann, sollte sich die Lehrkraft möglichst schnell wieder den anderen Kindern zuwenden - vor allem den "Opfern".
  • Erzieherisches Gespräch: Mit dem Schüler über seine Verhaltensweisen, den zugrunde liegenden Motiven und den Folgen sprechen, Verständnis für Regeln wecken, gemeinsam nach besseren Handlungsweisen suchen und Alternativen ausprobieren lassen. Im Gespräch Zuneigung, Wärme, Empathie und Echtheit zeigen
  • Problemlösetraining: konkrete Situation (z.B. Konflikt auf dem Schulhof) analysieren: Was wären die anzustrebenden Ziele? Welche Verhaltensalternativen bestehen? Wie werden die anderen auf die jeweilige Alternative (auch emotional) reagieren? Welche Konsequenzen sind für einen selbst zu erwarten? Was wäre somit die "richtige" Alternative? -> Rollenspiel (eventuell spielt die Lehrkraft eine positive Verhaltenssequenz vor oder wirkt als Coach) mit viel positiver Verstärkung und Feedback!

Relativ leicht lassen sich verhaltenstherapeutische Techniken einsetzen:

  • Voraussetzung ist die Verhaltensanalyse. Sie beginnt mit einer präzisen Definition des problematischen Verhaltens (nicht: "Der Junge ist ängstlich", sondern: "Der Junge meldet sich nicht im Unterricht"). Dann folgt eine Situationsanalyse: Hier wird genau erfasst, was einer auffälligen Reaktion vorausging, in welchem Kontext sie auftrat und was ihre Folgen waren. Anschließend wird die Funktion des auffälligen Verhaltens für das jeweilige Kind - was es dadurch erreicht - erarbeitet. Ferner wird ermittelt, ob der Schüler positive, mit dem Problemverhalten inkompatible Verhaltensweisen zeigt. Schließlich wird die Häufigkeit des Problemverhaltens und des inkompatiblen Verhaltens erfasst.
  • Dann wird das weitere Vorgehen geplant: Welche der Verhaltensauffälligkeit vorausgehenden Faktoren, welche Folgen und welche Rahmenbedingungen können beeinflusst werden? Wie kann die Häufigkeit positiver, mit dem Problemverhalten inkompatibler Verhaltensweisen erhöht werden? Dann kommen die im Folgenden beschriebenen Techniken zum Einsatz.
  • positive Verstärkung erwünschter Verhaltensweisen: Einsatz von materiellen Verstärkern, sozialen Verstärkern oder Handlungsverstärkern (z.B. gemeinsames Spielen/ Basteln; nach schwierigen Rechenaufgaben beliebtes Bewegungsspiel). Die Verstärkung muss unmittelbar auf das erwünschte Verhalten folgen!
  • negative Verstärkung/Bestrafung: Von dieser Technik wird eher selten Gebrauch gemacht, da durch sie kein alternatives (z.B. prosoziales) Verhalten aufgebaut wird.
  • Ignorieren auffälliger Verhaltensweisen ("Verstärkerentzug", Extinktion)
  • Lehren erwünschter Verhaltensweisen durch Verhaltensausformung (z.B. Anleiten des Kindes, Würdigung schon erster Ansätze eines angemessenen Verhaltens, Zerlegung komplexer Verhaltenssequenzen in kleine, leicht ausführbare Schritte) und/oder im Rollenspiel
  • Modelllernen (Vorbild des Lehrers oder anderer Schüler/innen)
  • Auszeit/ Time-out (z.B. Herausnahme des Schülers aus dem Raum oder dessen Ausschluss aus der Klasse mit Verbleib im Raum)
  • Entspannungsverfahren/-übungen
  • Training sozialer Fertigkeiten (z.B. Benutzung von Fotos, um die Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen zu verbessern; Rollenspiele mit einer Person, die als Vorbild für bestimmte Verhaltensweisen wirkt)
  • Verhaltensverträge: Mit Schüler/innen werden Verhaltensziele, "Strafen" und "Belohnungen" vereinbart. Sie können auch "Token" wie Spielmarken erhalten, wann immer sie die gewünschten Verhaltensweisen zeigen. Für eine bestimmte Anzahl von Token bekommen sie dann zuvor festgelegte Belohnungen).
  • Selbstinstruktionen: Verbesserung der Selbstkontrolle durch Anweisungen des Kindes an sich selbst.

Lehrer/innen müssen aber auch ihr eigenes Verhalten hinterfragen: Inwieweit trägt es zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten bei? Reagiere ich unangemessen auf bestimmte Schüler/innen bzw. Eltern? Sind meine sonderpädagogischen Kompetenzen unzureichend? Machen mich zu hohe außerdienstliche Belastungen gereizt? Leiden Schüler/innen unter meinen Konflikten im Kollegium, mit der Elternvertretung, dem Schulamt oder in meiner Familie?

Oft ist es notwendig, den eigenen Erziehungsstil zu verändern, sich neue heilpädagogische bzw. verhaltenstherapeutische Techniken anzueignen, die Gesprächsführung mit Eltern zu verbessern oder Konflikte mit anderen Erwachsenen zu lösen. Dies kann durch Fortbildungen bzw. Supervision erleichtert werden. Oft ist es auch sinnvoll, mit einzelnen Kollegen (oder im Kollegium) eine Fallbesprechung durchzuführen und mit ihnen das erzieherische Verhalten gegenüber dem jeweiligen Kind abzustimmen. Ferner können Beratungslehrer, Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter um Unterstützung gebeten werden.

Im Rahmen solcher Fallbesprechungen werden die Ursachen der Probleme des Schülers und seine besonderen Bedürfnisse abgeklärt. Auch können Lehrkräfte darauf aufmerksam gemacht werden, wie ihr Verhalten (z.B. eine Überbehütung oder Unterforderung des Schülers), Gruppenprozesse (wie die Zuweisung einer Sündenbockrolle) oder Rahmenbedingungen zu den Problemen des Kindes beitragen und was dagegen gemacht werden kann. Ferner werden sinnvolle erzieherische und heilpädagogische Maßnahmen besprochen. Schließlich können Elterngespräche vor- und nachbereitet werden. Durch Fallbesprechungen werden Lehrer/innen also indirekt weiterqualifiziert: Sie erwerben sonderpädagogische und psychologische Kenntnisse, neue Kompetenzen im Umgang mit "Problemkindern", Techniken der Gesprächsführung mit Eltern usw.

Einwirkung auf die Eltern

Insbesondere wenn die Ursachen der Verhaltensauffälligkeit oder der Lernstörung des Schülers in der Familie liegen, reicht es nicht aus, mit den Eltern nur das weiter oben beschriebene Gespräch zu führen. Vielmehr sind weitere Besprechungen notwendig, in denen die Lehrkraft beispielsweise

  • die Bedürfnisse, Stärken und Schwächen, Probleme und Verhaltensauffälligkeiten des Schülers erklärt
  • problematische Erziehungsstile, Rollenzuschreibungen, symbiotische Beziehungen, unangemessene Erwartungen, fehlende Regeln etc. und deren Folgen für das Kind bewusst macht
  • Ziele mit den Eltern vereinbart und mit ihnen nach (erzieherischen, sonderpädagogischen usw.) Maßnahmen sucht, mit denen die Ziele erreicht werden können. Generell ist die Wahrscheinlichkeit von positiven Veränderungen größer, wenn die Lehrkraft in der Schule und die Eltern in der Familie dieselbe Strategie verfolgen. So ist es wichtig, Erwartungen, Erziehungsziele und -stile aufeinander abzustimmen.
  • Die Eltern sollten dieselben Verhaltensweisen verstärken wie die Lehrkraft (Beispielsweise wird diese aggressive Verhaltensweisen nicht abbauen können, wenn der Vater sein Kind für dessen "Durchsetzungsfähigkeit" belohnt).
  • Verhaltensverträge: Wie weiter oben erwähnt, kann vereinbart werden, dass der Schüler für positive Verhaltensweisen Token erhält. Mit den Eltern wird dann besprochen, wie sie ihr Kind für eine bestimmte Anzahl von Token belohnen (z.B. mit einem besonderen Freizeiterlebnis oder mit Geld).
  • den Eltern erklären, wie Hausaufgaben kontrolliert und Prüfungen vorbereitet werden sollten, wie sie das Lernen der Kinder unterstützen und deren Entwicklung allseitig fördern können
  • den Eltern vorschlagen, ihr Kind in positiv wirkende Gruppen zu integrieren
  • Wenn sich vor allem die Eltern ändern müssen, sollten sich Lehrer/innen zurückhalten und sie selbst nach Lösungsmöglichkeiten suchen lassen (aber Vertrauen zeigen, dass Eltern ihre Probleme selbst lösen können, da dies ermutigt und motiviert). Sie sollten aber auch z.B. über Erziehungsfehler, über positive Erziehungsstile und -techniken, über altersgemäße Verhaltenserwartungen u.a. reden.
  • mit den Eltern über Familienbelastungen wie Ehekonflikte, anstehende Trennung, Scheidung, Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Armut usw. sprechen

Bei diesen Elterngesprächen stoßen Lehrer/innen oft auf Grenzen: Beispielsweise wollen manche Eltern keine Veränderung ihrer Situation (z.B. weil die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes eine die Ehe stabilisierende Funktion haben), sind ihre erzieherische Kompetenzen höchst unzureichend oder können sie ihre Probleme nicht beheben (z.B. Ehekonflikte, Armut, Ausgrenzung). Andere Grenzen ergeben sich daraus, dass Lehrer/innen in der Regel keine Zeit für eine intensive Beratung haben und auch nicht als Berater/innen qualifiziert sind. Schließlich gilt, dass die Maßnahmen umso weniger erfolgversprechend, je weiter entfernt sie von dem System sind, in dem die Ursachen der Verhaltensauffälligkeiten liegen. Sie sind zum Misserfolg verurteilt, wenn die Ursachen erhalten bleiben.

Hilfsangebote vermitteln

Sind die Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten oder Behinderungen zu stark ausgeprägt, lassen Rahmenbedingungen wie die Klassengröße oder die Zahl von Kindern mit besonderen Bedürfnissen eine intensive Förderung der betroffenen Kinder nicht zu, können keine Verbesserungen im Verhalten der Kinder erreicht werden, liegen die Ursachen vor allem in der Familie und können von den Lehrer/innen nur unzureichend beeinflusst werden, haben die Eltern große Probleme oder mangelt es ihnen an erzieherischen Kompetenzen (usw.) - dann müssen den Kindern und ihren Eltern Hilfsangebote psychosozialer Dienste erschlossen werden.

Dies setzt voraus, dass die Lehrkräfte in Frage kommende psychosoziale Dienste und deren Leistungen kennen. Relevante Informationen finden sie z.B. in Beratungsführern sowie in den Veröffentlichungen und Websites von Ministerien, Verbänden, Kommunen und sozialen Diensten). Auch persönliche Kontakte zu Mitarbeiter/innen der Einrichtungen sind nützlich: So ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Eltern den empfohlenen psychosozialen Dienst bzw. die Beratungsstelle aufsuchen, wenn Lehrer/innen das jeweilige Hilfsangebot genau beschreiben und einen Ansprechpartner benennen können. Haben sie aufgrund früherer Kontakte oder aufgrund positiver Erfahrungen mit ähnlichen Fällen selbst Vertrauen in die jeweilige Fachkraft, können sie den Eltern leichter Zuversicht "einflößen".

Allerdings können Lehrer/innen nur Empfehlungen aussprechen - ob Eltern entsprechend handeln, ist von diesen zu entscheiden. Verweigern sie die Konsultation eines psychosozialen Dienstes, werden ihnen die Konsequenzen verdeutlicht - z.B. Verfestigung der Verhaltensauffälligkeiten und eventuell Besuch einer Förderschule.

Ansonsten wird mit den Eltern vereinbart, dass sie die Lehrer/innen informieren, was seitens des psychosozialen Dienstes herausgefunden und unternommen wird. Die Lehrkräfte können sich auch eine (schriftliche) Einwilligungserklärung geben lassen, die es ihnen ermöglicht, mit den Mitarbeiter/innen des Fachdienstes über den jeweiligen Fall zu sprechen. So können Beobachtungen und Gedanken ausgetauscht werden, können sich Lehrer/innen über Diagnose, Behandlungsverlauf und Beratungsinhalte informieren lassen, können sie manchmal sogar eine Behandlung im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.

Mancherorts gibt es auch mobile sonderpädagogische Dienste, die in die Schule bzw. in die Klasse kommen. In der Regel geht es zunächst - mit Einverständnis der Eltern - um die Beobachtung des Schülers in einer ihm vertrauten Umgebung mit dem Ziel der Diagnoseerstellung. Daneben sammeln die Mitarbeiter/innen mobiler Dienste weitere Informationen über das Kind im Gespräch mit den Lehrkräften und möglichst auch mit den Eltern (Anamnese). Eventuell setzen sie entwicklungsdiagnostische Testverfahren ein oder erstellen Soziogramme. In Einzelfällen veranlassen sie eine medizinische, neurologische oder andersartige Untersuchung des Schülers durch Dritte. Nach der Diagnose wird ein Behandlungsplan erstellt. Je nach Auffälligkeit wird - zumeist einmal pro Woche - eine sonderpädagogische, sprach-, spiel- bzw. ergotherapeutische oder sonstige Behandlung durchgeführt. Dabei geht es in der Regel auch um eine allgemeine Förderung des Kindes, also um die Vermittlung sozialer und anderer Kompetenzen, die Integration in die Klassengemeinschaft, die Bewusstmachung von Grenzen, den Aufbau von Selbstvertrauen usw. Generell kann die Behandlung erfolgen als Einzelförderung außerhalb der Klasse, Einzelförderung in der Klasse, Förderung in einer Kleingruppe außerhalb der Klasse oder Förderung in einer Kleingruppe innerhalb der Klasse. Ferner werden die Eltern des Schülers beraten.

Vernetzung von Schulen

Deutlich wird, dass Lehrer/innen in die Familie und andere von der Schule weiter entfernte Systeme nur begrenzt intervenieren können. Hier sind sie auf die Zusammenarbeit mit Beratungsstellen, Jugendämtern und anderen psychosozialen Diensten angewiesen. Deshalb sollten sich Schulen mit diesen Einrichtungen vernetzen, sodass eine solide Grundlage für die Kooperation besteht - bevor ein Problemfall auftritt.

Kompensatorische Angebote

Kommen Eltern ihrer Erziehungs- und Bildungsfunktion nur unzureichend nach und wird dadurch die Weiterentwicklung ihrer Kinder beeinträchtigt, sollten seitens der Schule kompensatorische Maßnahmen durchgeführt werden. Hier sind natürlich in erster Linie die Lehrer/innen gefragt, die dabei aber auch auf "bildungsstarke" Eltern, Ehrenamtliche, Schulsozialarbeiter/innen oder andere geeignete Personen zurückgreifen können. So könnten z.B. folgende Angebote gemacht oder organisiert werden:

  • Hausaufgabenbetreuung
  • kostenloser Nachhilfeunterricht
  • Förderstunden
  • Vorlesenachmittage, Buchausstellungen oder Bibliotheksbesuche, durch die Kinder aus bildungsschwachen Familien in die Welt der Bücher eingeführt werden und die deren Literacy-Erziehung dienen.
  • Nutzung von Computern in der Schule - natürlich unter Anleitung -, wenn Kinder zu Hause keinen Computer haben.
  • Selbstbehauptungstraining für Schüler/innen, die in ihrer Familie kein Selbstvertrauen entwickeln konnten.
  • Musik-, Tanz-, Theater-, Mal-, Werk- oder Technikkurse für Kinder mit besonderen Begabungen in Bereichen, die von der Schule zu wenig berücksichtigt werden.

Schulsozialarbeit

Sozialpädagog/innen, die entweder von der Schule angestellt wurden oder von einem öffentlichen bzw. freien Träger der Jugendhilfe entsandt werden, machen:

  • unterrichtsbezogene Angebote: Krisenmanagement, Beratung von Lehrer/innen und Schüler/innen, Mitwirkung bei Fahrten und Freizeiten, Hausaufgabenhilfen, fallorientierte Förderung bei Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten
  • außerunterrichtliche Freizeitangebote: Arbeitsgemeinschaften, geschlechtsspezifische Angebote, Schülertreff/ -café, Angebote für Schüler/innen mit Migrationshintergrund
  • Elternbildung und -beratung
  • außerschulische Angebote: Kooperation mit Jugendverbänden, Gemeinwesenarbeit

Ferner arbeiten die Schulsozialarbeiter/innen intensiv mit dem Jugendamt zusammen und vermitteln Hilfen nach dem SGB VIII.

Familienbildung

Da alle Eltern nur über (Kindertagesstätten und) Schulen erreicht werden können, sollte es vor allem hier familienbildende Maßnahmen geben. Diese könnten auf Honorarbasis von Psycholog/innen, (Sozial-) Pädagog/innen und anderen qualifizierten Fachleuten durchgeführt werden, sodass die Kosten relativ gering wären. Relevante Angebote an Schulen können beispielsweise sein:

  • Elternkurse, in denen nicht nur Wissen über die Erziehung und Bildung von Kindern in der Familie vermittelt wird, sondern auch Kompetenzen gefördert werden. Die meisten Elterntrainings wollen generell die Erziehungskompetenz von Eltern stärken; andere Kurse befassen sich hingegen mit besonderen Problemen wie z.B. Eltern-Kind-Konflikten.
  • Elterngruppen, bei denen das Gespräch miteinander im Vordergrund steht: Die Eltern können Fragen und Probleme, die sie beschäftigen, untereinander diskutieren - eventuell auch mit einer entsprechend qualifizierten Person, die als Gesprächsleiterin fungiert.
  • Einzelveranstaltungen für Eltern, z.B. zu Themen wie: "Der Grundschullehrplan", "Wie bereite ich mein Kind auf den Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule vor?", "Gefahren des Internets".
  • Angebote für besondere Zielgruppen: Für Migrant/innen können z.B. Veranstaltungen zur bilingualen Erziehung (aber auch Sprachkurse) durchgeführt werden.

Beratungsangebote

Denkbar sind z.B. folgende Maßnahmen:

  • Beratungsangebote von Erziehungs- und Familienberatungsstellen für Eltern mit Erziehungsproblemen und für Scheidungsfamilien (auch als Gesprächskreis)
  • Beratungsangebote des Allgemeinen Sozialdienstes für sozial schwache Familien
  • Selbsthilfegruppen, z.B. für Eltern mit behinderten Kindern

Bei den familienbildenden und den -beratenden Angeboten ist die Schule in erster Linie als Organisator gefragt. Selbstverständlich können Lehrer/innen einzelne Maßnahmen selbst durchführen, wenn sie daran Interesse haben und sich entsprechend qualifiziert fühlen. In der Regel wird es aber darum gehen, in der Kooperation mit Einrichtungen der Jugendhilfe und Erwachsenenbildung externe Referent/innen zu beauftragen und die Kostenfrage zu klären.

Im Idealfall entsteht somit ein System ganz unterschiedlicher Hilfen für die von Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten betroffenen Kinder, Eltern und Lehrer/innen. Dieses System bezieht Kind, Peergroup, Schule und Familie ein.

Literatur

Linderkamp, F./Grünke, M.: Lern- und Verhaltensstörungen: Klassifikation, Prävalenz & Prognostik. In: Linderkamp, F./Grünke, M. (Hrsg.): Lern- und Verhaltensstörungen. Genese - Diagnostik - Intervention. Weinheim, Basel: Beltz/PVU 2007, S. 14-28