Peer Helpers: Schüler helfen Schülern

Martin R. Textor

 

Deutsche und amerikanische Schulen stehen vor demselben Problem: Einerseits sind 20 bis 25% aller Schüler/innen verhaltensauffällig. Viele experimentieren mit Alkohol und Drogen, werden misshandelt oder sexuell missbraucht, leiden unter Familienverhältnissen wie Ehekonflikten, Scheidung und Langzeitarbeitslosigkeit. Andererseits gibt es immer noch zu wenig Beratungslehrer/innen, Schulpsycholog/innen und Schulsozialarbeiter/innen, die somit nur einer kleinen Zahl dieser Kinder helfen können. Die meisten hilfsbedürftigen Schüler/innen wenden sich nicht an ihre Lehrer/innen, da sie diese als unerreichbar, desinteressiert oder überfordert erleben. Manche haben mehr Vertrauen in ihre Klassenkameraden und besprechen ihre Probleme mit ihnen, finden häufig aber nur wenig Unterstützung. In den USA macht man sich seit einigen Jahrzehnten dieses Phänomen zunutze, indem man vermehrt ältere Schüler/innen als "peer helpers" bzw. "peer facilitators" einsetzt.

Erste "peer programs" an Schulen wurden bereits Ende der 60er Jahre von Lehrern und Beratern wie Vriend, Varenhorst, Leibowitz oder Samuels gegründet. In der Zwischenzeit hat sich die Bewegung landesweit ausgedehnt und auf alle Schultypen übergegriffen. In einigen Staaten der USA (z.B. Texas) wurde beschlossen, "peer helpers" möglichst an allen Schulen einzusetzen; in anderen wurden Ausbildungskurse für "peer facilitators" als Wahlfächer anerkannt, sodass Schüler/innen durch das Belegen dieser Kurse" credits" erwerben können. Neben Organisationen in den Einzelstaaten (z.B. "Peer Assistance Network of Texas") wurde eine "National Peer Helpers Association" gegründet.

"Peer helpers" sollen keine Berater/innen sein - den damit verbundenen Anspruch können Schüler/innen selbstverständlich nicht erfüllen. Myrick und Myrick (o.J.) beschreiben ihre Rolle folgendermaßen: "Peer faciliators sind Personen, die sich um andere kümmern und mit ihnen über ihre Gedanken und Gefühle sprechen. Sie sind weniger 'Ratgeber' oder 'Problemlöser', sondern sensible Zuhörer, die kommunikative Fertigkeiten nutzen, um Selbsterfahrung, verantwortliche Entscheidungsfindung und positives Denken zu fördern" (S. 3). Sie ermöglichen das Gespräch über persönliche und zwischenmenschliche Schwierigkeiten, leiten beim eigenständigen Erkennen und Bewerten verschiedener Handlungsalternativen an und fördern die selbsttätige Problemlösung. Können sie in einem Fall nicht helfen, vermitteln sie den Mitschüler an Beratungslehrer/innen, Schulpsycholog/innen oder andere Fachleute weiter.

Präventive Wirkung

"Peer facilitators" erreichen in den USA Tausende beratungsbedürftiger Schüler/innen, die aufgrund wenig störender Symptome oder mangelnder Ressourcen im Bildungswesen sonst keine Hilfe erhalten würden. Häufig entdecken sie Probleme wie Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch oder Mitgliedschaft in Banden, die den Lehrer/innen nicht bekannt waren. Vor allem aber wird auch Schüler/innen geholfen, die aus verschiedenen Gründen (z.B. Angst, Rebellion gegen Autorität, Generationenkonflikt) Lehrer/innen und andere Erwachsene von sich aus nicht um Unterstützung bitten würden - jedoch nur niedrige Hemmschwellen überwinden müssen, wenn sie von Mitschüler/innen auf ihre Probleme hin angesprochen werden. Auch geht von "peer programs" eine starke präventive Wirkung aus, da oft Schüler/innen Hilfe finden, bevor sich ihre Probleme bzw. Symptome verfestigt haben oder es zu Krisen kommt.

"Peer helpers" werden in den USA noch auf andere Weise eingesetzt: So gibt es an vielen Schulen "Freundschaftsprogramme", bei denen sich Schüler/innen (höherer Klassen) Schulanfänger, Schulwechsler, Behinderter oder ausländischer Mitschüler annehmen und ihnen die Eingewöhnung erleichtern. Häufig werden sie auch als "big brothers/sisters" oder "special friends" bei jüngeren Schüler/innen eingesetzt, die z.B. sehr verschüchtert, unsicher oder ängstlich sind. Viele "peer helpers" wirken als Tutoren: Sie geben jüngeren Schüler/innen für mehr oder minder lange Zeit Nachhilfeunterricht oder betreuen Lerngruppen. Oft leiten sie auch freiwillige Arbeitsgemeinschaften oder Diskussionsgruppen außerhalb der Unterrichtszeit. Vielfach geben "peer facilitators" in verschiedenen Klassen "Präsentationen" zu Themen wie Alkoholmissbrauch, Drogen, Selbstmord, Schulstress, Lerntechniken, Freundschaft oder Selbsterkenntnis. Andere assistieren Lehrer/innen im Unterricht, beraten Mitschüler/innen am Telefon oder halten den Kontakt zu sozialen Einrichtungen in ihrer Gemeinde.

Ausbildung

Es ist offensichtlich, dass an "peer helpers" recht hohe Erwartungen gestellt werden. So wird großer Wert auf ihre Auswahl und Ausbildung gelegt. Zumeist müssen sich interessierte Schüler/innen formell bewerben, Empfehlungen von Lehrer/innen und/oder Mitschüler/innen einholen und an einem (strukturierten) Auswahlgespräch teilnehmen. In der Regel werden Schüler/innen ausgesucht, die als verantwortungsbewusst, verlässlich, offen und sensibel gelten. Vereinzelt werden aber auch nach dem Prinzip "training is treatment" verhaltensauffällige oder demotivierte Kinder aufgenommen. Die Ausbildung wird entweder von (Beratungs-)Lehrer/innen, Schulpsycholog/innen oder Fachleuten aus sozialen Diensten durchgeführt. Sie wird als Wahlkurs oder in einem Club, als Wochenendseminar oder in den Ferien angeboten. In der Regel dauert sie mindestens 20 Stunden, kann aber auch sehr viel mehr Zeit beanspruchen. Hier wird deutlich, dass "peer programs" von Schule zu Schule sehr unterschiedlich sind.

Während der Ausbildung werden den ausgewählten sechs bis 15 Schüler/innen zunächst Grundkenntnisse über die Rolle von "peer facilitators", das menschliche Verhalten, Konflikt- und Problemlösungsprozesse, Lerntechniken, Gruppendynamik u.Ä. vermittelt (jedoch z.B. nicht über psychotherapeutische Theorien). Vor allem aber werden sie in Fertigkeiten wie Zuhören, Klarifizieren von Gedanken und Gefühlen, Feedback, Zeigen von Empathie, Konfrontieren, positive Verstärkung usw. geschult. Auch wird großer Wert auf Selbsterfahrung und das Erkennen der eigenen Grenzen gelegt. Ferner sollen die "peer helpers" Vertrauen zueinander und Zusammengehörigkeitsgefühle entwickeln, sodass sie offen über sich selbst und ihre Erfahrungen in der Praxis sprechen können. In der Regel führen sie nach einer relativ kurzen Unterrichtsphase ein erstes Projekt (z.B. als Tutor oder Leiterin einer Diskussionsgruppe) durch, das keine besonders hohe Anforderungen an sie stellt. Dann werden die Praxiserfahrungen, die Erfolge und Misserfolge besprochen. Die Ausbildung wird fortgesetzt und das nächste Projekt geplant. Können "peer facilitators" selbstständig arbeiten, erhalten sie nur noch (Gruppen-)Supervision. Anzumerken ist, dass in den USA bereits praxisnahe und mit vielen Übungen versehene Lehr- und Schulbücher (z.B. Myrick/Bowman 1985; Myrick/Erney 1985; Myrick/Sorenson 1988; vgl. Anhang zu Thomas 1988) sowie Videos angeboten werden.

Laut der "National Peer Helpers Association" und dem "Peer Assistance Network of Texas" waren "peer facilitators" bei schlechten Schulleistungen, Schulschwänzen, Verhaltensauffälligkeiten, negativem Selbstbild, Alkohol- und Drogenproblemen sowie Schwierigkeiten mit Lehrer/innen, Eltern und Geschwistern erfolgreich. Durch rechtzeitiges Vermitteln von Mitschüler/innen an Fachleute konnten sie häufig verhindern, dass aus Problemen Krisen wurden.

Selbstverständlich profitieren auch die "peer helpers" von ihren Erfahrungen, werden beispielsweise reifer, sensibler und selbstbewusster.

Schüler/innen können also Schülern helfen. Auch unter deutschen Schüler/innen findet sich sicherlich ein Potenzial an hilfsbereiten, empathischen und vertrauenserweckenden Kindern und Jugendlichen, die verhaltensauffälligen, leistungsschwachen, ausländischen oder unter Familienproblemen leidenden Mitschüler/innen auf ähnliche Weise beistehen könnten, wie dieses im Rahmen von "peer programs" in den USA möglich ist. Ob das jedoch der Fall sein wird, hängt davon ab, inwieweit Lehrerschaft und Schulverwaltung in der Zukunft Verantwortung für die emotionale, soziale und Persönlichkeitsentwicklung von Schüler/innen, also für deren Erziehung, übernehmen werden und ob sie die Unterstützung hilfsbedürftiger Kinder und Jugendlicher als Auftrag des Bildungswesens verstehen wollen. Erst wenn dieses geschieht, wird das Schulsystem wahrhaft bildend und nicht überwiegend wissensvermittelnd sein.

Quelle

Aus: Neue Deutsche Schule 1990, 42, Heft 9, S. 22-23 (leicht überarbeitete Fassung)

Literatur

Myrick, R.D./Bowman, R.P.: Becoming a friendly helper: A handbook for student facilitators. Minneapolis: Educational Media Corporation 1981

Myrick, R.D./Erney, T.: Youth helping youth: A handbook for training peer facilitators. . Minneapolis: Educational Media Corporation, 6. Aufl. 1985

Myrick, R.D./Myrick, L.S.: Peer facilitator programs: Mobilizing human resources. Unveröffentlichtes Manuskript. Gainesville: University of Florida, o.J.

Myrick, R.D./Sorenson, D.L.: Peer helping: A practical guide. . Minneapolis: Educational Media Corporation 1988

Thomas, H.G. Jr.: Guidelines for peer program development. Austin: PAN-Texas 1988