Kindeswohlgefährdung in Familien und Bildungseinrichtungen

Martin R. Textor

 

In den 1960er Jahren wurde vor allem in den USA die Familientherapie entwickelt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Verhaltensauffälligkeiten von Kindern an der betroffenen Person festgemacht, und so konzentrierte sich die Therapie auf das Individuum. Die Familientherapeuten vertraten nun eine andere Position: Sie sagten, nicht das Kind sei gestört, sondern die Familie, in der es lebt. Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme würden von pathogenen, d.h. krank machenden Familienstrukturen verursacht; sie seien nur Symptome pathologischer Familiensysteme. Deshalb wurden die betroffenen Personen nun als "Symptomträger" oder "Identifizierte Patienten" bezeichnet.

Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch in Familien

Zu den pathogenen Familienprozessen gehören auch Vernachlässigung, körperliche bzw. psychische Misshandlung und sexueller Missbrauch. Wenn Kinder auf solche Art und Weise von ihren Eltern behandelt werden, ist es nicht verwunderlich, wenn sie verhaltensauffällig werden oder psychische Probleme entwickeln. Ihre Symptome können als ein unbewusster "Hilferuf" verstanden werden: "In meinem Zuhause stimmt etwas nicht! Ich leide in meiner Familie!" Der Symptomträger sucht also im Grunde nach Hilfe für die gesamte Familie. Dies ist vor allem bei jüngeren Kindern nicht verwunderlich, denn schließlich lieben sie ihre Eltern trotz Misshandlung oder Missbrauch. Sie sind von ihrer Familie abhängig, müssen noch viele Jahre in ihr leben.

In der Rückschau überrascht es, wie viel Widerstand die ersten Familientherapeuten in den 1960er und 1970er Jahren erfuhren. Für uns ist es offensichtlich, dass die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen von Kindern zumeist in den Familien liegen! In den 1960er Jahren passten diese Vorstellungen jedoch nicht zu den beiden vorherrschenden Familienbildern: Die Kirchen und orientierte sich an der "heiligen Familie". Mütter sollten der Jungfrau Maria, Väter dem Heiligen Josef nacheifern. Und das aufgeklärte Bürgertum hatte ein eigenes Familienbild entwickelt: Hier gab es die herzensgute Mutter, die aus der Wohnung ein kuscheliges Heim macht und den liebevollen, wenn auch strengen Vater. Nach beiden Familienbildern war Misshandlung oder sexueller Missbrauch in Familien undenkbar!

Inzwischen wissen wir, dass es solche Verstöße gegen das Kindeswohl wohl in der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben hat - auch in den 1960er Jahren. Aber noch immer ist unklar, in wie vielen Familien es zu Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch kommt. Dazu schreiben der Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund (2010): "Wissenschaftliche Studien zum Ausmaß von Kindeswohlgefährdungen liegen in Deutschland vor allem über körperliche Misshandlungen und vereinzelt auch zur sexuellen Gewalt gegen Kinder vor. So schätzt Engfer - die empirischen Untersuchungen über körperliche Misshandlungen zusammenfassend -, dass etwa die Hälfte bis zwei Drittel der deutschen Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen und dass zehn bis fünfzehn Prozent der Eltern ihre Kinder in schwerwiegender und relativ häufiger Form körperlich bestrafen (Engfer, 2000). In Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Kindern resümiert Ernst, dass '10%-15% der Frauen und 5%-10% der Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal einen unerwünschten oder durch die 'moralische' Übermacht einer deutlich älteren Person oder durch Gewalt erzwungenen sexuellen Körperkontakt erlebt haben' (Ernst, 1998, S. 69). Ähnliche Häufigkeitsschätzungen auf der Basis empirischer Erhebungen für die Vernachlässigung von Kindern und für die emotionale Misshandlung von Kindern in Deutschland sind nicht möglich, da für diese Formen von Kindeswohlgefährdung keine derartigen empirischen Untersuchungen vorliegen" (S. 23). Da nur wenige Fälle in der Polizeilichen Kriminalstatistik, den Statistiken im Gesundheitswesen und den Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe dokumentiert werden, ist weiterhin von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen (a.a.O.).

Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch in Bildungseinrichtungen

In den letzten Jahrzehnten haben sich in Psychologie und Sozialpädagogik systemische Ansätze immer mehr durchgesetzt. Die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen werden nun nicht mehr nur im Kind oder in der Familie gesucht, sondern in allen Systemen, die die Lebenswelt eines Kindes ausmachen: in Verwandtschaft, Kindertageseinrichtung, Schule, Freundeskreis, Soziotop usw.

Auch außerhalb der Familie kann es also pathogene Strukturen und Prozesse geben, die sich negativ auf ein Kind auswirken. Gehören dazu auch sexueller Missbrauch, Kindesmisshandlung und Vernachlässigung? Vor einigen Jahren hätten wir diese Frage verneint. Seit Anfang 2010 werden aber Fälle sexuellen Missbrauchs in Kirchengemeinden und Internatsschulen intensiv diskutiert. Die meisten dieser Fälle liegen Jahre zurück, aber es gibt auch aktuelle. Ferner wird über sexuellen Missbrauch in Heimen, insbesondere an Behinderten und in Kindertageseinrichtungen berichtet. Fälle der körperlichen Misshandlung von Kindern außerhalb der Familie sind ebenfalls bekannt geworden, scheinen aber selten zu sein. Oder mangelt es uns hier an Sensibilität? Wenn z.B. eine Erzieherin zwei kämpfende Kinder auseinander reißt, ein sich sträubendes Kind beim Anziehen hart anfasst oder ein den Morgenkreis störendes Kind neben sich auf einen Stuhl zwingt, ist dies keine Anwendung körperlicher Gewalt?

Psychische Misshandlungen scheinen in Schulen sogar recht häufig zu sein: Beispielsweise befragte laut Strohm (2010) der Schulleiter Hoos 450 Lehrerstudenten in Hamburg: "80,8 Prozent hatten in ihrer Schulzeit Bedrohungen und Beleidigungen erlebt; 25,5 Prozent waren körperlicher Gewalt durch Lehrer ausgesetzt gewesen (Schulisches Lernen und Lehrergewalt, 2002). Volker Krumm et al. haben in Deutschland, in der Schweiz und Österreich knapp 3000 Studenten darüber befragt, ob sie im Laufe ihrer Schulzeit kränkendes Lehrerverhalten erlebt haben. 78 Prozent bejahten diese Frage (Psychosozial Verlag, S. 58, 2000). In einer weiteren Studie antworteten sogar 95% der Studenten mit Ja (Aggressionen in der Schule, S. 163-166, 1995). Krumm ergänzt: 'Knapp die Hälfte der Befragten hat wiederholt Verletzungen erlebt ... Über 85 Prozent dieser (48%) Jugendlichen erlebten Verletzungen mindestens ein halbes Jahr lang - bezogen auf alle Jugendlichen ist das über ein Drittel. Definiert man Mobbing - als negative kommunikative Handlungen - so streng wie es Leymann (S. 22, 1993) ursprünglich tat, nämlich mindestens einmal pro Woche mindestens sechs Monate lang, dann erlebten sich 17,6% der Befragten während ihrer Schulzeit als von einer Lehrerperson gemobbt'."

Und wie sieht es mit Vernachlässigung aus? So wird z.B. an vielen Schulen der Aufsichtspflicht nicht entsprochen. Bei der IGLU-Studie 2006 berichtete laut Valtin (2010) jedes vierte Mädchen und jeder dritte Junge, dass sie im letzten Monat in der Grundschule von Mitschülern geschlagen oder verletzt wurden. Zudem leiden viele Schüler unter Mobbing. Wo bleiben da die Lehrer? Und inwieweit vernachlässigt das Schulsystem physische Bedürfnisse von Kindern, z.B. nach gesunder Ernährung und viel Bewegung? Vielerorts gibt es keinen Schwimmunterricht mehr, wurden Sportstunden zu Gunsten anderer Fächer reduziert. Und wie sieht es mit der Befriedigung psychischer Bedürfnisse aus, die außerhalb des kognitiven Bereichs liegen?

In Kindertageseinrichtungen kommt es nach amerikanischen Untersuchungen relativ häufig vor, dass einzelne Kinder im Verlauf einer Woche keinen Kontakt zu ihren Erzieher/innen haben. Beispielsweise ermittelten Layzer, Goodson und Moss (1993) bei einer Studie an 119 Tageseinrichtungen in fünf Bundesstaaten, dass im Verlauf der einwöchigen Beobachtungsphase mehr als 30% der Kinder überhaupt keinen individuellen Kontakt zu einer Fachkraft hatten - in 12% der Gruppen war es sogar mehr als die Hälfte der Kinder. Kontos und Wilcox-Herzog (1997) fassten einige andere wissenschaftliche Untersuchungen zusammen, nach denen Kleinkinder während 28 bis 79% der Zeit ignoriert wurden, in der sich Fachkräfte in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, und es nur während 10 bis 31% der Zeit zu verbalen oder nonverbalen Interaktionen kam.

Eine deutsche Untersuchung ergab, dass nur 1,5% der befragten 144 Kindergartenkinder manchmal mit der Erzieherin spielen (Roux 2002). Ferner berichteten 53% der Kinder, dass sie manchmal in einem Raum spielen würden, in dem sich keine Fachkraft aufhält. In Fortbildungen mit deutschen Erzieher/innen, bei denen diese ihre letzte Arbeitswoche nach einem von mir erstellten Arbeitsblatt analysierten, kamen manche Fachkräfte zu der Erkenntnis, dass sie in diesen fünf Tagen keinen Kontakt zu einzelnen Kindern hatten, der über die Begrüßung und Verabschiedung hinaus ging - kein Wunder bei den in vielen Bundesländern üblichen großen Gruppen (z.B. umfassten im Jahr 2007 Kindergartengruppen in Bayern und Nordrhein-Westfalen durchschnittlich 23,8 Kinder - und das ist ein Mittelwert, viele Gruppen sind also größer) (Lange 2008). Ist das nicht schon Vernachlässigung?

Fazit

Sexueller Missbrauch, Kindesmisshandlung und Vernachlässigung treten nicht nur innerhalb des Familiensystems auf, sondern auch in anderen Lebenswelten von Klein- und Schulkindern. In all diesen Fällen wird gegen die Grundrechte von Kindern und gegen das Kindeswohl verstoßen, kann es zu einer Schädigung der kindlichen Entwicklung kommen.

Literatur

Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund: Ausmaß und Umfang von Risikolagen von Kindern in Nordrhein-Westfalen. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Studie Kindeswohlgefährdung - Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention. Düsseldorf 2010, S. 23-47

Kontos, S./Wilcox-Herzog, A.: Teachers' interactions with children: Why are they so important? Young Children 1997, 52 (2), S. 4-12

Lange, J.: Kindertagesbetreuung in Deutschland. Kennzahlen - Indikatoren - Daten. Zentrale Befunde aus der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zum 15.03.2007. http://129.217.205.15/akj/Downloads/Kita2008.pdf (2008)

Layzer, J.I./Goodson, B.D./Moss, M.: Observational Study of Early Childhood Programs. Final Report, Volume 1: Life in Preschool. Washington, D.C. 1993

Roux, S.: Wie sehen Kinder ihren Kindergarten? Theoretische und empirische Befunde zur Qualität von Kindertagesstätten. Weinheim, München 2002

Strohm, H.: Die Rolle des Lehrers, das Tabuthema Lehrergewalt, der Kreislauf der Gewalt, wenn Schüler Lehrer töten, ist Schule die Ursache für Gewalt? http://www.lernen-ohne-angst.de/index-Dateien/DasTabuthemaLehrergewalt.pdf (02.06.2010, S. 2-3)

Valtin, R.: Wie Kinder sich Schule wünschen. Humane Schule 2010, 36. Jg., Mai-Heft, S. 6-7