Vom Krieg der Politik und Wirtschaft gegen die Familie und vom Krieg der Menschen gegen die Gesellschaft

Martin R. Textor

 

Die Ehe ist schlecht für Frauen: Verheiratete (schweizerische) Frauen sterben durchschnittlich anderthalb Jahre früher als unverheiratete (FOCUS online, 03.03.2006). Die Ehe ist gut für Männer: Verheiratete Männer werden im Durchschnitt fast zwei Jahre älter als unverheiratete. Die Familie ist schlecht für die Ehe: Nach der Geburt des ersten Kindes sinkt die Beziehungsqualität stark ab; weitere Geburten verstärken den Trend. Ehescheidung ist gut für die Familie: Der andauernde Streit hört auf, der die kindliche Entwicklung so stark beeinträchtigen kann. Scheidung ist schlecht für die Familie: Die Kinder leiden unter der Trennung von einem Elternteil; Teil- und Stieffamilien bieten oft schlechtere Sozialisationsbedingungen als Erstfamilien.

Die Familie ist gut für Wirtschaft und Sozialsysteme: Sie "produziert" junge Arbeitnehmer und Beitragszahler; wer keine Kinder zeugt, sollte deshalb mit Rentenkürzungen von bis zu 50% bestraft werden (FOCUS online, 16.03.2006). Die Familie ist schlecht für die Wirtschaft: Junge Mütter fallen zumeist für mehrere Jahre aus; es entstehen Kosten für die Suche und das Einarbeiten einer Ersatzkraft und für die Nachschulung der Berufsrückkehrer/innen. Die Familie ist gut für den Staat: Sie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Die Familie ist schlecht für den Staat: Sie zahlt weniger Steuern als Singles und kinderlose Paare und verursacht mehr direkte und indirekte Kosten (z.B. für Schulen und Universitäten).

Kinder sind gut für die Familie: Sie bieten Lebenssinn, machen viel Freude und bringen Abwechslung in das Leben. Kinder sind schlecht für die Familie: Sie sind oft schwierig zu erziehen und kosten ihren Eltern viel Geld - mehr als 100.000 EUR bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Die Familie ist gut für Kinder: Hier lernen sie grundlegende Kompetenzen, die zu zwei Dritteln den späteren Schulerfolg bestimmen. Die Familie ist schlecht für Kinder: Stimmen die Sozialisationsbedingungen nicht, kommen die Eltern aus unteren sozialen Schichten oder sind sie Migrant/innen, versagen die Kinder häufiger in der Schule und erwerben keinen Schul- oder Berufsabschluss.

Kindertageseinrichtungen sind gut für (benachteiligte) Kinder: Hier erwerben sie soziale und andere wichtige Kompetenzen, können sie kompensatorische Erziehung wie z.B. Sprachförderung erhalten. Der Kindergarten ist schlecht für Kinder: Bei einer unzureichenden Qualität bleiben sie für bis zu einem Jahr hinter der Entwicklung anderer Kinder zurück (Tietze/ Roßbach/ Grenner 2005). Kindertageseinrichtungen sind gut für die Wirtschaft: Insbesondere bei langen Öffnungszeiten und ausreichenden Plätzen für Unterdreijährige ermöglichen sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kindertagesstätten sind schlecht für Bundesland und Kommune: Sie kosten viel Geld; deshalb wurden/ werden die Rahmenbedingungen verschlechtert, um Kosten zu sparen.

Die Grundschule ist gut für Kinder: Hier lernen sie die wichtigsten Kulturtechniken. Die Grundschule ist schlecht für Kinder: Werden sie nicht angemessen von ihren Eltern unterstützt und zusätzlich gefördert, werden sie für Sonder- und Hauptschulen selektiert. Eltern sind kompetent: Erzieher/innen und Lehrer/innen sollten eng mit ihnen zusammenarbeiten und nach einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft trachten. Eltern sind unfähig: Sie sollten Elternkurse besuchen und verbindliche "Erziehungsgespräche" mit Lehrer/innen führen (Ministerpräsident Günther Oettinger, 27.12.2005) - diese sollten auch am Ende der Grundschulzeit den weiteren Bildungsgang der Kinder bestimmen, da Eltern ihre Kinder nicht richtig kennen würden (in NRW vom Kabinett verabschiedeter Gesetzesentwurf).

Eltern erziehen ihre Kinder gut: So werden in vielen Bundesländern und Kommunen die Mittel für Erziehungs- und Familienberatungsstellen, für Familienbildung und andere Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe reduziert. Eltern vernachlässigen, misshandeln und missbrauchen Eltern ihre Kinder sexuell: Sie sollten von den Kindertages- und Bildungseinrichtungen überwacht werden; der Zustand der Kinder soll in Zukunft bei verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U10 kontrolliert werden (Antrag am 10.02.2006 von fünf Bundesländern im Bundesrat).

Der "Krieg" gegen die Familie

Die Familie wird von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft also zunehmend ambivalent gesehen. Selbst die CDU/CSU, die früher immer die Familie hochgehalten hat, steht ihr nun zwiespältig gegenüber: Auch sie fordert Kindertagesbetreuung so früh und so lang wie möglich; von ihr gestellte Ministerpräsidenten wie Jürgen Rüttgers und Günther Oettinger plädieren für die "Überwachung" von Eltern oder sprechen ihnen das Recht ab, über die Schullaufbahn ihrer Kinder zu bestimmen. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die zu einer verstärkten finanziellen Förderung der Familien führen müssten, werden seit vielen Jahren von allen Parteien ignoriert - schließlich ist kein Geld "in der Kasse". Die SPD fordert sogar Kürzungen bei Kindergeld und Kinderfreibeträgen (DIE WELT, 21.02.2006). Und obwohl seit mindestens zwei Jahrzehnten die zu erwartenden und jetzt schon eintretenden negativen Konsequenzen der Überalterung und Schrumpfung der Bevölkerung bekannt sind, ist eine Bevölkerungspolitik weiterhin tabu. Die Entschuldigung? Die Nazis hätten so etwas gemacht...

Kein Wunder, dass nun immer mehr Menschen der Familie gegenüber ambivalent eingestellt sind. Und so entscheiden sich junge Erwachsene in noch nie da gewesenem Maße gegen die Gründung einer Familie - oder kommen erst gar nicht in eine solche Situation, da sie keinen geeigneten bzw. an Kindern interessierten Partner finden oder weil sie sich in einer unsicheren finanziellen Lage befinden. Sie verweigern sich einer Lebensform, die von der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik immer mehr abgewertet wurde - beispielsweise gilt die Rolle als Hausfrau und Mutter als antiquiert und unbefriedigend, seien Emanzipation und Selbstverwirklichung nur im Beruf möglich, wird statt einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine so früh wie möglich beginnende Fremdbetreuung forciert. Nur: Wer setzt Kinder in die Welt, um sie gleich wieder an Tagesmütter oder in Kinderkrippen "abzuschieben" und dafür auch noch die Kosten zu übernehmen? Wer sieht einen Sinn darin, Kinder zu zeugen, damit die Wirtschaft ihren Bedarf an Humankapital decken und die Politik den Sozialstaat retten kann? Wenn Familien so instrumentalisiert werden und gleichzeitig Gesellschaft und Wirtschaft immer familien- und kinderfeindlicher werden, ist es kein Wunder, wenn sich bereits ein Drittel der jüngeren Generation eine Familie nicht mehr "antun" will.

Letztlich leben wir also in einer Zeit, in der Wirtschaft und Politik Krieg gegen die Familie führen, indem sie diese immer weiter schwächen, und in der viele Menschen Krieg gegen die Gesellschaft führen, indem sie keine Familien gründen und damit keine Gesellschaftsmitglieder reproduzieren. Und wie bei allen Kriegen wird es auch hier nur Verlierer geben!

Literatur

Tietze, W./ Roßbach, H.-G./ Grenner, K.: Kinder von 4 bis 8 Jahren. Zur Qualität der Erziehung und Bildung in Kindergarten, Grundschule und Familie. Weinheim 2005