Zur Vorbereitung auf die Pflegeelternschaft

Martin R. Textor

 

Eine von mir Anfang 1995 durchgeführte Umfrage (Textor in Druck) ergab, dass 38% der befragten 105 Pflegeeltern die Vorbereitung auf die Pflegeelternschaft und 31% die Vorbereitung auf die Aufnahme des zuletzt vermittelten Kindes als "mangelhaft" bezeichneten. Nur 24 bzw. 26% der Befragten benoteten die Arbeit der Pflegekinderdienste in diesen beiden Bereichen mit "sehr gut" oder "gut". Diese Aussagen verdeutlichen eindrucksvoll, dass die Vorbereitung auf die Pflegeelternschaft bzw. auf ein Pflegekind durch die Fachkräfte der Jugendämter und freier Träger der Jugendhilfe verbessert werden sollte.

Die Umfrage zeigte, dass nahezu alle Bewerber (90%) von den zuständigen Sozialarbeitern im Gespräch auf ihre schwierige und verantwortungsvolle Tätigkeit als Pflegeeltern vorbereitet wurden. Aber nur 22% der Befragten besuchten Seminare, gerade ein Drittel erhielt schriftliche Materialien. Da aufgrund der Arbeitsüberlastung vieler Fachkräfte von Pflegekinderdiensten die Zeit für Gespräche mit Bewerbern recht knapp sein dürfte, überrascht es nicht, dass viele relevante Themen wohl nur am Rand gestreift wurden. So war nur der kleinere Teil der befragten Pflegeeltern der Meinung, dass sie im Rahmen der Vorbereitung auf ihre Aufgaben ausreichend informiert wurden über: Rechtsfragen (31%), kindliche Entwicklung (32%), Verhaltensauffälligkeiten und Behinderungen (35%), Probleme in der Eingewöhnungsphase (43%), Problematik der doppelten Elternschaft (41%), Problematik der Beziehung zur Herkunftsfamilie des Kindes (mit 52% die einzige Ausnahme), Probleme leiblicher Kinder bei Aufnahme eines Pflegekindes (24%; sicherlich nicht bei Kinderlosen nötig), mit der Rückführung eines Pflegekindes verbundene Gefühle (22%) und die Aufgaben des Jugendamtes (37%).

Bedenkt man, dass Pflegeeltern heutzutage mit zumeist verhaltensauffälligen und psychisch belasteten Kindern zu tun haben und von ihnen ein gewisses Maß an Professionalität im Umgang mit den Herkunftsfamilien erwartet wird, kann auf eine gründliche Vorbereitung nicht verzichtet werden. Letztlich ist es nur im Rahmen von Abendkursen oder (mehrerer) mehrtägiger Seminare möglich, die genannten Themen ausführlich und mit einem vertretbaren Zeitaufwand abzuhandeln (Goldbeck 1984; Titterington 1990). Dabei ist es sinnvoll, auf für Pflegeverhältnisse typische Konfliktsituationen hinzuweisen, über die Genese und Behebung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen zu informieren, erzieherische und heilpädagogische Kompetenzen zu vermitteln sowie Selbsterfahrung zu ermöglichen. Hier können auch erfahrene Pflegeeltern eingebunden werden. In Einzelgesprächen kann dann mehr auf die Motive der Bewerber, die Qualität der Partnerbeziehung, die Belastbarkeit des Familiensystems u.ä. eingegangen werden. Leben leibliche Kinder in der Familie, sollten auch diese (durch ihre Eltern) auf die Aufnahme eines Pflegekindes vorbereitet werden. Dabei müssen deren Gefühle und Ängste besprochen werden (vgl. Poland/Groze 1993). Seminare und Einzelgespräche sollten durch Selbststudium relevanter Bücher, Broschüren und Artikel ergänzt werden; die Fachkräfte sollten zumindest Literaturlisten zur Verfügung stellen.

Zur Aufnahme von Pflegekindern

Bei der von mir durchgeführten Umfrage gaben 31% der befragten 105 Pflegeeltern an, vor der Aufnahme des zuletzt in ihre Familie platzierten Pflegekindes nur ein Gespräch mit dem zuständigen Sozialarbeiter geführt zu haben; in weiteren 39% der Fälle waren es zwei bis drei Gespräche. So überrascht nicht, dass sie ihrem Bekunden nach relevante Informationen oftmals nicht erhielten. Beispielsweise wurden vor der Inpflegegabe nicht informiert: 22% der Befragten über die Beziehung des zukünftigen Pflegekindes zu seinen leiblichen Eltern, 37% über traumatische Erfahrungen des Kindes in seiner Herkunftsfamilie, 30% über Entwicklungsverzögerungen sowie 34% über Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen. Ferner erhielten 44% der Pflegeeltern keine Informationen über den psychischen Zustand der leiblichen Eltern, 26% über deren Partnerbeziehung, 20% über deren Familienverhältnisse und 51% über deren Erziehungsstil bzw. -verhalten. Auch hatten viele Pflegeeltern wenig Gelegenheit, sich persönlich ein Bild von ihrem zukünftigen Pflegekind zu machen: Nur 47% berichteten von mindestens einem Treffen mit dem Kind in Anwesenheit der zuständigen Sozialarbeiterin, 55% von mindestens einem Besuch des Kindes bei ihnen oder durch sie ohne Anwesenheit von Fachkräften, 33% von mindestens einer Übernachtung des Kindes bei ihnen und gerade 20% von mehrtägigen Aufenthalten des Kindes bei ihnen vor der Inpflegegabe.

Aus diesen Befragungsergebnissen lässt sich folgern, dass ein Großteil der Pflegeverhältnisse plötzlich und ohne ausreichende Vorbereitung begann. Viele Pflegeeltern erhielten keine oder nur wenige Informationen über ihr zukünftiges Pflegekind. Eine längerfristige Kontaktanbahnung war die Ausnahme; sechs oder mehr Treffen, Besuche, Übernachtungen oder mehrtägige Aufenthalte zum Kennenlernen des Kindes fanden nur in 5 bis 15% der Fälle statt. Ein Großteil der Pflegeeltern konnte somit wohl kaum eine auf Informationen und persönlichen Eindrücken beruhende Entscheidung für oder gegen die Inpflegenahme des jeweiligen Kindes fällen. Die Betroffenen ließen sich unvorbereitet auf ein Abenteuer ein - und so überrascht nicht, dass es nach anderen Untersuchungen in ein bis zwei Fünftel der Fälle zu Pflegestellenabbrüchen kommt (Textor 1995).

Aufgrund dieser Befragungsergebnisse dürfte es dringend erforderlich sein, dass die Fachkräfte der Pflegekinderdienste mehr Zeit für die Vorbereitung der ausgewählten Pflegeeltern auf das für sie vorgesehene Kind und für die Kontaktanbahnung einplanen. In den Fällen, in denen eine sofortige Herausnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie indiziert ist, kann die benötigte Zeit durch eine Zwischenplatzierung in einem Heim oder einer Kurzzeitpflege gewonnen werden. Dann können die Fachkräfte in Ruhe den "werdenden" Pflegeeltern alle relevanten Informationen über das Kind und seine Herkunftsfamilie geben und mit ihnen diskutieren. Auch können sie sich im Gespräch mit dem Kind und dessen bisherigen Bezugspersonen (Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen, frühere Pflegeeltern) ein Bild von ihm verschaffen und ihre Eindrücke an die vorgesehenen Pflegeeltern weitergeben (Siebler 1995). Vermuten oder erfahren sie, dass das Kind entwicklungsverzögert, psychisch gestört, behindert oder verhaltensauffällig ist, können sie eine psychologische, ärztliche oder kinderpsychiatrische Untersuchung veranlassen. Die Befunde sollten sie an die ausgewählten Pflegeeltern weitergeben und mit ihnen diskutieren. Dabei muss auch über den erzieherischen Umgang mit dem Kind und eventuell nötige medizinische oder therapeutische Maßnahmen gesprochen werden (Masur 1995 a).

Sind die Pflegeeltern an der Inpflegenahme dieses Kindes interessiert, sollten sie es dann kennen lernen können - wobei insbesondere bei älteren Kindern hierfür ein längerer Zeitraum anzusetzen ist. Die Fachkräfte dürfen nicht darauf verzichten, mit den Pflegeeltern die ersten Begegnungen und Erfahrungen zu reflektieren, sie beim Verstehen der Persönlichkeit und des Verhaltens des Kindes zu unterstützen, von ihnen gewünschte ergänzende Informationen zu ermitteln und unrealistische Erwartungen abzubauen (Goldbeck 1984). Aber auch mit älteren Kindern sollten Gespräche über ihre Eindrücke, Gefühle und Ängste geführt werden. Diese können an Erwachsene delegiert werden, die das Vertrauen der Kinder besitzen.

Sofern die Beziehung des Pflegekindes zu seinen leiblichen Eltern und Verwandten aufrechterhalten werden soll, sollten sich Herkunfts- und Pflegefamilie in der Platzierungsphase kennen lernen. Dann lassen sich wechselseitige Erwartungen klären und Absprachen (z.B. über die Gestaltung von Besuchskontakten) fördern. Zugleich wird die Grundlage für spätere Gespräche über Konflikte zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie, schwerwiegende Entscheidungen bezüglich des Pflegekindes (z.B. Schullaufbahn, ärztliche Behandlung) oder die Rückführung des Kindes gelegt (Deutscher Städtetag 1986). Kaiser und seine Kollegen (1990) ergänzen: "Herkunfts- und Pflegefamilien benötigen in jedem Falle Schulung und Beratung zum Umgang nicht nur mit dem Pflegekind, seinen Bedürfnissen, Rechten und Problemen, sondern auch zum Umgang miteinander und mit Institutionen, Behörden usw." (S. 138). Die Betreuung durch die Fachkräfte darf sich somit nicht auf die Platzierungsphase beschränken, sondern muss zeitlich weit darüber hinausgehen.

Zur Notwendigkeit einer "doppelten" Professionalisierung

Aus diesen und weiteren Ergebnissen meiner Umfrage (Textor in Druck), der Analyse deutscher und internationaler Forschungsergebnisse (z.B. Textor 1995), den Erfahrungen von Pflegeeltern (z.B. Huber 1995; Munker/Munker 1995) sowie den Erkenntnissen von Therapeuten (Kaiser et al. 1990) lässt sich folgern, dass der Pflegekinderbereich dringend einer "doppelten" Professionalisierung bedarf - sowohl aufseiten der Fachkräfte als auch aufseiten der Pflegeeltern. Wie aufgezeigt, müssen letztere intensiver und umfassender für ihre verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe "ausgebildet" werden. Sollen sie stark verhaltensauffällige, psychisch gestörte oder behinderte Kinder aufnehmen, darf in Zukunft auf eine entsprechende (heilpädagogische, "therapeutische" usw.) Weiterqualifizierung nicht mehr verzichtet werden (Goldbeck 1984). Auch müssen Pflegeeltern besser auf die Aufnahme eines bestimmten Kindes vorbereitet werden, muss genügend Zeit für die Kontaktanbahnung eingeplant werden. Schließlich entspricht die - auch z.B. im Achten Jugendbericht monierte - dürftige Bezahlung von Pflegeeltern schon jetzt nicht mehr ihrer Tätigkeit.

Pflegeeltern müssen als Partner der Pflegekinderdienste und Ausführende von Jugendhilfemaßnahmen gesehen werden. Dann dürfen sie auch nicht von der Hilfeplanung (§ 36 KJHG) ausgeschlossen werden, wie dies in 27% der von mir untersuchten 77 Fälle einer Inpflegenahme nach 1991 (also nach dem Inkrafttreten des KJHG) geschah (weitere 22% der von mir befragten Pflegeeltern wurden nur ansatzweise an der Hilfeplanung beteiligt). Hier erfahren die "werdenden" Pflegeeltern, was die Anamnese über das Kind ergab, wie die Familiensituation eingeschätzt wird, welche Maßnahmen für die leiblichen Eltern geplant werden, ob das Kind einer besonderen Behandlung durch die Pflegeeltern, durch Ärzte, Psychologen oder andere Fachkräfte bedarf und wie wahrscheinlich die Rückkehroption ist. Auch können sie sich in die Diskussion einbringen. Wirken - wie in § 36 KJHG vorgesehen - die leiblichen Eltern an der Hilfeplanung mit (auch dies war in 35% der von mir untersuchten 77 Fälle nicht und bei weiteren 21% nur ansatzweise der Fall, zumindest laut Auskunft der Pflegeeltern), kann das Verhältnis zwischen ihnen und den Pflegeeltern im Gespräch geklärt, können unterschiedliche Erwartungen besprochen sowie die jeweiligen Entscheidungs- und Mitwirkungsrechte transparent gemacht werden.

Eine professionellen Standards entsprechende Tätigkeit der Fachkräfte von Pflegekinderdiensten umfasst aber nicht nur eine gründliche Schulung von Pflegeeltern (einschließlich der Durchführung von Seminaren), eine detaillierte Hilfeplanung unter Mitwirkung der leiblichen Eltern, der Pflegeeltern und anderer beteiligter Fachkräfte und die sorgfältige Vorbereitung der Pflegeeltern auf die Aufnahme des jeweiligen Kindes, sondern auch Werbemaßnahmen, Medienarbeit, die Auswahl geeigneter Bewerber, die Anamnese, die Auswahl zum jeweiligen Kind "passender" Pflegeeltern, die Vorbereitung des Kindes auf die Inpflegegabe und die Kontaktanbahnung (Masur 1995 b; Siebler 1995) - ganz zu schweigen von der Nachbetreuung und Beratung nach Aufnahme des Kindes (nicht Themen dieses Artikels). Es ist offensichtlich, dass den Fachkräften die hierzu nötige Zeit gegeben werden muss. So wird in den "Empfehlungen" des Deutschen Städtetages (1986) festgelegt, dass die Fallzahl 50 (höchstens 60) Pflegekinder pro Fachkraft nicht übersteigen soll. Außerdem sollten die Sozialarbeiter über die benötigten Sachmittel, einen PKW und einen Raum für Beratungsgespräche verfügen, sollte ihre Fachkompetenz durch Praxisberatung, Supervision und Fortbildung gefördert werden. Leider sind diese Voraussetzungen in der Regel nicht gegeben, kommen häufig 80 bis 120 Pflegekinder auf eine Sozialarbeiterin (Widemann 1991). So ist eine Professionalisierung der Pflegeeltern und Fachkräfte untrennbar mit einer Verbesserung der Rahmenbedingungen verknüpft - wenn auch diese nicht als Entschuldigung für das Aufschieben notwendiger Veränderungen dienen dürfen, zumal meine Befragungsergebnisse zeigen, dass schon unter den gegebenen Umständen die Arbeit vieler Sozialarbeiter als "sehr gut" von Pflegeeltern beurteilt wird (siehe Textor in Druck).

Quelle

Aus: Unsere Jugend 1995, 47, S. 503-506; mit Genehmigung des Ernst Reinhardt Verlages, München

Literatur

Achter Jugendbericht. Drucksache 11/6576. Bonn: Deutscher Bundestag 1990

Deutscher Städtetag: Pflegekinder - Hinweise und Empfehlungen. Köln: Selbstverlag 1986

Goldbeck, L.: Pflegeeltern im Rollenkonflikt - Aufgaben einer psychologischen Betreuung von Pflegefamilien. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1984, 33, S. 308-317

Huber, I.: Warum gerade solche Kinder? In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995, S. 91-95

Kaiser, P./Rieforth, J./Winkler, H./Ebbers, F.: Strukturprobleme von Pflegefamilien - Möglichkeiten und Grenzen von Selbsthilfe. Familiendynamik 1990, 15, S. 125-140

Masur, R.: Entwicklungsrehabilitation: Zur Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern mit Pflegefamilien. In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995 a, S. 134-143

Masur, R.: Werbung, Auswahl und Vorbereitung von Pflegeeltern. In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995 b, S. 97-112

Munker, J./Munker, C.: Iris. In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995, S. 79-85

Poland, D.C./Groze, V.: Effects of foster care placement on biological children in the home. Child and Adolescent Social Work Journal 1993, 10, S. 153-164

Siebler, M.: Vermittlung von Pflegekindern. In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995, S. 125-133

Textor, M.R.: Forschungsergebnisse zur Familienpflege. In: Textor, M.R./Warndorf, P.K. (Hg.): Familienpflege: Forschung, Vermittlung, Beratung. Freiburg: Lambertus 1995, S. 43-66

Textor, M.R.: Ergebnisse der Pflege- und Adoptivelternumfrage. Kindeswohl, in Druck

Titterington, L.: Foster care training: a comprehensive approach. Child Welfare 1990, 69, S. 157-165

Widemann, P.: Die Pflegefamilie - mehr benutzt als geschätzt. Materialien zur Heimerziehung 1991, Nr. 4, S. 10-15