Politisierung und Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung: der Kontext
Martin R. Textor
In den letzten Jahren haben Wirtschaft und Politik ein großes Interesse an der Betreuung unter Dreijähriger entwickelt. Während über Jahrzehnte hinweg in Westdeutschland Angebote für Kinder dieser Altersgruppe als „Notbehelf“ für alleinerziehende Mütter und als eher negativ für die frühkindliche Entwicklung betrachtet wurden, hat sich nun innerhalb kürzester Zeit eine Position in der Bundesrepublik durchgesetzt, die zuvor nur in der DDR vertreten wurde: Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige soll ein Regelangebot werden; bis zum Jahr 2013 soll für jedes dritte Kind dieses Alters ein Platz in einer Einrichtung oder in Tagespflege geschaffen werden. In diesem Kapitel wird versucht, die Gründe für diesen radikalen Meinungsumschwung nachzuzeichnen.
Die frauenpolitische Perspektive
Seit etwa vier Jahrzehnten wird in Deutschland die Vereinbarkeit von Familie und Beruf thematisiert. Zunächst „entdeckte“ die Emanzipationsbewegung die Bedeutung des Berufs für die Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit der Frau. Einerseits könnten Frauen durch Erwerbstätigkeit das in ihnen liegende Potenzial entfalten und andererseits sich aufgrund des eigenen Einkommens bei Bedarf aus der „Zwangsgemeinschaft“ einer Ehe lösen.
Diese Position setzte sich allmählich in der Gesellschaft durch. Dazu trug bei, dass immer mehr Frauen weiterführende Schulen besuchten und einen eigenen Berufsabschluss erwarben – inzwischen haben sie sogar mit den Männern gleich gezogen bzw. diese überholt (z.B. hinsichtlich des Anteils an den Schüler/innen weiterführender Schulen und der dort erreichten Durchschnittsnoten). Je mehr aber in die eigene Schul- und Berufsbildung investiert wurde, je höher das mit dem jeweiligen Beruf verbundene Prestige und Einkommen sind, je größer die aus der Erwerbstätigkeit resultierende Zufriedenheit und Selbstverwirklichung sind, umso schwerer fällt es, darauf zu verzichten, um sich daheim der Betreuung und Erziehung eigener Kinder zu widmen. In vielen Medien- und Erfahrungsberichten wurde immer wieder thematisiert, wie unglücklich junge Mütter während der Familienphase seien, wie sehr sie die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz vermissen würden, dass Selbstbild und Selbstwertgefühle mangels der mit einer Berufsausübung verbundenen Bestätigungen zum Negativen hin tendieren würden.
Aber auch die ab den 1970er Jahren stark ansteigenden Scheidungsraten haben den meisten Frauen deutlich gemacht, dass sie auf ein eigenes Einkommen nicht (längerfristig) verzichten sollten. Zu dieser Haltung trugen sowohl wissenschaftliche Studien als auch Medien- und Erfahrungsberichte über die prekäre finanzielle Situation von Alleinerziehenden bei. Wenn die Hälfte aller Ehen geschieden wird, können sich junge Mütter nicht darauf verlassen, dass ihr Lebensunterhalt bis zu ihrem Tode durch den Ehegatten sichergestellt wird. Dies gilt erst recht seit den neuesten Rentenreformen, die in den kommenden Jahrzehnten zu immer niedriger werdenden (Witwen-) Renten führen werden. Somit sind Frauen „gezwungen“, durch Erwerbstätigkeit möglichst hohe eigene Rentenansprüche zu erwerben.
Je mehr junge Mütter erwerbstätig sind, je früher sie nach der Geburt eines Kindes wieder arbeiten möchten und je länger ihre tägliche Arbeitszeit ist, umso brisanter wird die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. So wurde diese Problematik frühzeitig von der Frauen- und Gleichstellungspolitik aufgegriffen. Neben vielen anderen Maßnahmen wurde auch der Ausbau der Kindertagesbetreuung forciert. Zunächst stand die Schaffung von Kindergarten(halbtags)plätzen mit verlängerten Öffnungszeiten im Vordergrund der Bemühungen, inzwischen geht es um den Ausbau der Angebote für unter Dreijährige und der Ganztagsbetreuung. Trotzdem konnte in Deutschland eine Gleichstellung von Mann und Frau noch nicht in dem Maße wie in anderen Ländern erreicht werden. So zeigte eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (Anger/ Plünnecke 2008), dass in den neun OECD-Staaten mit dem höchsten Anteil an betreuten unter Dreijährigen (2006: 34,2%) 63,0% der Mütter erwerbstätig waren und die durchschnittliche Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen im Jahr 2005 gerade einmal 16,5% betrug. In Deutschland waren nur 36,1% der Mütter unter Dreijähriger (Betreuungsquote: 9,0%) erwerbstätig; die durchschnittliche Lohndifferenz betrug 24,0%.
In Deutschland ist eine Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit noch nicht in dem Maße gegeben wie in anderen Ländern. Dieser Meinung waren 64% der für den „Familienmonitor 2008“ befragten berufstätigen Mütter; nur 18% sahen Familie und Beruf als gut miteinander vereinbar (Institut für Demoskopie Allensbach 2008, S. 2). Aber auch unterschiedliche Einstellungen der Frauen spielen eine Rolle. Beispielsweise ergab eine in Deutschland und Frankreich durchgeführte Umfrage: „Während deutsche Mütter am ehesten das Modell favorisieren, bei dem die Vollzeitberufstätigkeit des Mannes durch eine Teilzeitbeschäftigung der Partnerin ergänzt wird, präferieren französische Mütter am ehesten die Vollzeitberufstätigkeit beider Partner. ... Völlig unterschiedlich wird die Frage beurteilt, ab welchem Alter die Kinder ohne weiteres in einer Kinderkrippe oder -tagesstätte betreut werden können. 62 Prozent der französischen Frauen, aber nur 7 Prozent der deutschen Frauen halten es ohne weiteres für möglich, Kinder schon mit weniger als einem Jahr in eine externe Betreuungseinrichtung zu geben“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2007, S. 4 f.).
Beim „Familienmonitor 2008“ zeigte sich auch, dass nur 32% der Deutschen ab 16 Jahren eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Vergleich mit dem Zustand vor zehn oder fünfzehn Jahren wahrnahmen (überwiegend Westdeutsche); 33% (vor allem Ostdeutsche) sahen eine Verschlechterung als gegeben an. So forderten 63% der Deutschen, Familienpolitiker/innen sollten sich generell für die Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzen – und speziell für ein größeres Angebot an Ganztageskindergärten und Ganztagsschulen (48% der Befragten) sowie für den Ausbau der Kinderkrippen (44% der Befragten). Berufstätige Mütter von Kindern unter 18 Jahre waren sogar zu 51% der Meinung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf könne durch mehr Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren erleichtert werden – aber auch durch verstärkte Ganztagsbetreuung in Kindergarten und Schulen (76% der Mütter), eine bessere Abstimmung der Betreuungszeiten mit den Arbeitszeiten von Eltern (64%) sowie durch Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Betrieben (ebenfalls 64% der Mütter). Beim „Familienmonitor 2008“ wurde ferner ermittelt, dass im Vergleich zu den vorausgegangenen Jahren das Alter immer weiter sinkt, ab wann die Deutschen einen Betreuungsbeginn für sinnvoll erachten: Der Durchschnittswert betrug in Westdeutschland nun 2,4 Jahre und in Ostdeutschland 1,6 Jahre (Institut für Demoskopie Allensbach 2008, S. 2-5).
Von den nicht berufstätigen Müttern von Kindern unter 18 Jahre würden 56% gerne arbeiten, und zwar knapp die Hälfte von ihnen (46%) unter 20 Stunden, ein knappes Drittel (30%) 20 bis 30 Stunden und ein knappes Fünftel (16%) 30 und mehr Stunden (Institut für Demoskopie Allensbach 2008, S. 7). Auch eine Studie der Bundesagentur für Arbeit zeigte, dass nur 6% der Mütter in Westdeutschland und 2% der Mütter in Ostdeutschland ganz auf eine Berufstätigkeit verzichten wollen (nach Seybold 2007). Von den nicht erwerbstätigen Müttern mit Kindern unter drei Jahren gaben bei der DJI-Kinderbetreuungsstudie sogar 84% an, dass sie eine Berufstätigkeit anstreben. „Für gut die Hälfte unter ihnen (55 Prozent) sind nach eigenen Angaben fehlende oder inadäquate Betreuungsmöglichkeiten mit ein Grund dafür, dass sie ihre Pläne noch nicht verwirklichen konnten“ (Bien/ Rauschenbach/ Riedel 2007, S. 8).
Die wirtschaftspolitische Perspektive
So lange Frauen relativ schlecht ausgebildet waren und auf dem Arbeitsmarkt ein Überangebot an gleichwertig qualifizierten Arbeitssuchenden bestand, konnten Arbeitgeber junge Mütter relativ problemlos ersetzen, die nach der Geburt eines Kindes kündigten oder Erziehungsurlaub bzw. Elternzeit nahmen. So waren sie an Maßnahmen zur Gleichstellung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer/innen bzw. zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf kaum interessiert.
Diese Position änderte sich in den letzten Jahren, als sich aufgrund der Bevölkerungsentwicklung abzeichnete, dass in Zukunft immer weniger junge Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt nachrücken werden. So werden auch immer weniger junge Frauen bereit stehen, um Mütter während der Elternzeit zu ersetzen. Entscheidender für den Einstellungswandel war jedoch, dass die Kosten für die Arbeitgeber stark ansteigen: Da immer mehr Frauen eine weiterführende Schule besucht, ein Studium abgeschlossen bzw. eine anspruchsvolle Berufsausbildung durchlaufen haben, müssen Arbeitgeber nun häufiger nach Ersatz für hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen suchen. Beispielsweise verdeutlichte eine Studie der Prognos AG (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005, S. 13), dass 2005 die „Wiederbeschaffungskosten“ einer Stelle in der unteren Einkommensklasse 9.500.- EUR, in der mittleren 23.200,- EUR und in der oberen 43.200,- EUR betrugen – der letztgenannte Betrag setzte sich u.a. aus 10.500,- EUR an Anwerbungs-, 3.900,- EUR an Auswahl-, 3.700,- EUR an Ausbildungs- und 7.600,- EUR an Einarbeitungskosten zusammen; die Minderleistung während der Einarbeitung wurde auf weitere 4.800,- EUR beziffert. Kommt die junge Mutter nach der Elternzeit oder vielleicht erst nach fünf, sechs Jahren zurück (wenn sie für ein weiteres Kind erneut Elternzeit beanspruchen konnte), entstehen für sie umso höhere Fortbildungs- und Einarbeitungskosten, je länger ihre Familienphase dauerte und je höher ihre Qualifikation ist. Bei einer Abwesenheit von 18 Monaten wurde der Betrag bereits mit 50% und bei 36 Monaten sogar mit 75% der vorgenannten Wiederbeschaffungskosten beziffert.
Bei derartig hohen betriebswirtschaftlichen Kosten ist es verständlich, dass Unternehmen an einer Verkürzung der effektiv in Anspruch genommenen Elternzeit auf 18 Monate und weniger interessiert sind. Dies ist aber nur möglich, wenn ausreichend Betreuungsplätze für unter Dreijährige zur Verfügung stehen. Deshalb haben Wirtschaftsverbände in den letzten Jahren ihr Interesse an der Familienpolitik entdeckt und fordern nun einen Ausbau der Betreuungsangebote. Dabei geht es ihnen aber nicht nur um die reine Platzzahl, sondern auch um eine Flexibilisierung der Betreuungszeiten – bedingt dadurch, dass immer mehr Arbeitnehmer/innen am Abend, am Samstag oder am Sonntag arbeiten müssen. Beispielsweise ergab der Kita-Check 2008 des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (2008), dass 96% der befragten mehr als 6.700 Kindertageseinrichtungen unter der Woche nach 18 Uhr nicht mehr geöffnet sowie 99% am Samstag und zwei Drittel während der Ferienzeit geschlossen haben. Nur Betriebskindergärten, privat-gewerbliche Kindertagesstätten und eng mit Betrieben kooperierende Einrichtungen hätten sich im überdurchschnittlichen Maße dem Bedarf von Eltern angepasst. Deshalb fordert der DIHK u.a.:
- „Die Länder müssen in ihren gesetzlichen Rahmenvorgaben sicherstellen, dass die privatgewerblichen Träger – unter den gleichen Voraussetzungen wie alle anderen Träger – die öffentliche Förderung erhalten können. Nachdem dies im Kinderförderungsgesetz (KiföG) nicht bundesweit einheitlich geregelt wurde, sind die Länder gehalten, dies flächendeckend umzusetzen.
- Alle Kommunen müssen regelmäßig verpflichtende Bedarfsanalysen zu Umfang, Dauer und vor allem der zeitlichen Lage der gewünschten Betreuung durchführen. Dabei ist Voraussetzung, dass die Eltern selbst angeben, welche Betreuungszeiten und Rahmenbedingungen sie benötigen. Nur so wird die notwendige Transparenz geschaffen, die ein tatsächlich bedarfsgerechtes Angebot ermöglicht.
- Die Eltern müssen im Rahmen des Rechtsanspruches für Kinderbetreuung – für die unter dreijährigen Kinder ab 2013, für die Drei- bis Sechsjährigen schon heute – über die Lage der Betreuungszeiten frei entscheiden können. Samstagsöffnungszeiten müssen explizit Bestandteil des Betreuungsangebotes werden, ebenso wie erweiterte Öffnungszeiten (u.a. abends nach 18:00 Uhr). Hier sind in erster Linie die Träger gemeinsam mit den Jugendämtern gefordert, ein flexibleres Angebot zu gewährleisten“ (Deutscher Industrie- und Handelskammertag 2008, S. 4).
Ob sich diese Forderungen durchsetzen lassen, ist aufgrund der damit verbundenen Kosten eher fraglich. Jedoch wird die Entwicklung eindeutig in diese Richtung gehen: In je mehr Bundesländern privatgewerbliche Träger in gleichem Maße wie kommunale und freigemeinnützige Träger gefördert werden, umso mehr von ihnen verantwortete Kindertageseinrichtungen werden entstehen. Sie werden mit „bedarfsgerechteren“ Öffnungszeiten werben und vor allem Eltern unter dreijähriger Kinder ansprechen, da hier das Platzangebot noch ausgebaut werden muss. Hinsichtlich der Betreuungszeiten sehr flexibel sind schon jetzt die meisten Tagespflegepersonen – und rund ein Drittel der für unter Dreijährige zu schaffenden neuen Plätze soll in der Tagespflege entstehen. Auch werden vermutlich mehr an die Arbeitszeiten bzw. Schichten der Arbeitnehmer/innen angepasste betriebliche Kindertageseinrichtungen entstehen.
Zudem hat die Bundesregierung das „Förderprogramm Betrieblich unterstützte Kinderbetreuung“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008) aufgelegt, dem bis Ende 2011 insgesamt 50 Mio. EUR aus dem Europäischen Sozialfonds zur Verfügung stehen. Die Mittel fließen aber nur langsam ab – für Unternehmen entstehen trotz der Förderung Kosten, die sich vermeiden lassen, wenn die Kinder der Betriebsangehörigen anderweitig versorgt werden. Außerdem sehen die meisten Unternehmen in der Kindertagesbetreuung eine öffentliche Aufgabe. So argumentiert die Wirtschaft mit wissenschaftlichen Untersuchungen, nach denen die gesamte Gesellschaft von einem Ausbau der Kindertagesbetreuung profitiere. Beispielsweise ergab ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002), dass der jährliche Einnahmeeffekt im Bereich der Einkommensteuer zwischen 1,1 und 6 Mrd. EUR und im Bereich der Sozialversicherungen zwischen 1,4 und 8,9 Mrd. EUR liegen würde, falls alle akademisch ausgebildeten Mütter (148.000 Frauen) mit Kindern ohne ganztägige Betreuung (Minimalvariante) oder alle erwerbswilligen Mütter (1,6 Mio. Frauen) mit Kindern ohne ganztägige Betreuung einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnten. Hinzu kämen Mehreinnahmen von 1,3 Mrd. EUR bei der Einkommensteuer und von 4,4 Mrd. bei den Sozialversicherungen durch rund 430.000 neue Beschäftigte im Bereich der Kindertagesbetreuung sowie Einsparungen bei der Sozialhilfe für alleinerziehende Mütter in Höhe von 800 Mio. EUR.
In einem neuen Dossier wurde die letztgenannte Zahl an die neue Rechtslage (SGB II) angepasst, wobei aber nur die ca. 75.000 Bedarfsgemeinschaften mit (jüngsten) Kindern im Alter von zwei oder drei Jahren berücksichtigt wurden. Die Ausgaben nach dem SGB II für diesen Personenkreis beliefen sich 2006 auf 826 Mio. EUR. Könnte ein Drittel dieser Menschen aufgrund des Ausbaus von Einrichtungen für unter Dreijährige erwerbstätig werden, ergäben sich Einsparungen in Höhe von 272 Mio. EUR (Prognos AG 2008, S. 24 f.).
Bei einer anderen aktuellen Studie wurde anhand verschiedener Szenarien berechnet, wie hoch die Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer und den Sozialversicherungen wären, wenn der Krippenausbau um 420.000 Plätze – wie derzeit vorgesehen – dazu führen würde, dass ein Drittel, die Hälfte oder sogar zwei Drittel der bisher aufgrund der Kinderbetreuung zu Hause bleibenden Eltern erwerbstätig würden. Je nach Szenario wird von zusätzlichen öffentlichen Einnahmen zwischen 1,0 und 3,4 Mrd. EUR ausgegangen (Dohmen 2007, S. 21-24).
Laut einer Studie der BASS AG wäre ein volkswirtschaftlicher Nettonutzen von 2,1 Mrd. EUR pro Geburtsjahrgang generiert worden, wenn 35% der 1990 bis 1995 geborenen Kinder eine Kinderkrippe besucht hätten (Fritschi/Oesch 2009). In der Realität waren nur 16% in einer Kinderkrippe gewesen, zumeist erst ab dem Alter von zwei Jahren. Im Vergleich zu Kindern ohne Krippenbesuch erhöhte sich für sie die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, von 35 auf rund 50%. Von den sozial benachteiligten Kindern gingen sogar rund zwei Drittel mehr auf das Gymnasium. Aufgrund der größeren Wahrscheinlichkeit, das Abitur zu erwerben und ein höheres Lebenseinkommen zu erzielen, ergibt sich pro betreutem Kind ein durchschnittliches Mehreinkommen von 21.642,- EUR – ein Betrag, der knapp dreimal höher ist als die Kosten für den Krippenbesuch von 8.026,- EUR (bei einer durchschnittlichen Dauer von 1,36 Jahren). Investitionen in den Krippenbereich würden sich somit mit 7,3% pro Jahr verzinsen.
Was alle diese Studien verdeutlichen (sollen) ist, dass die durch den Ausbau der Betreuungsangebote für unter dreijährige (und ältere) Kinder entstehenden zusätzlichen Kosten durch Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer und den Sozialversicherungen sowie durch Einsparungen bei den Ausgaben nach dem SGB II refinanziert werden könnten und der Ausbau sogar mit einem „Gewinn“ für Staat und Volkswirtschaft verbunden sei (siehe auch die im folgenden Abschnitt referierte Studie). Problematisiert wird allerdings, dass die meisten zusätzlichen Einnahmen bzw. die Einsparungen nicht bei den Bundesländern und den Kommunen anfallen würden – die aber den größten Teil der Ausbaukosten und Mehrausgaben tragen müssten.
Die bildungspolitische Perspektive
Aufgeschreckt durch das schlechte Abschneiden deutscher Schüler/innen bei internationalen Vergleichsstudien (IGLU, PISA usw.) und die darauf folgende intensive Diskussion der Ergebnisse in der Öffentlichkeit, haben Politik und Verwaltung eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungssystems initiiert. Aufgrund von Forschungsergebnissen der Entwicklungs- und Lernpsychologie sowie der Hirnforschung über die Bedeutung der frühen Kindheit für die Schullaufbahn versprechen sie sich besonders große positive Effekte von einer Intensivierung der frühkindlichen Bildung – und das nach dem Motto „Je früher beginnend (und je länger am Tag), umso besser“.
Vor allem durch die Einführung von Bildungsplänen und begleitende Maßnahmen wurde in allen Bundesländern versucht, die Qualität der frühkindlichen Bildung zu verbessern. Paradoxe der Entwicklung in den letzten Jahren sind jedoch, dass
- bei den meisten Bildungsplänen die ersten drei Lebensjahre nur unzureichend berücksichtigt wurden. Dadurch wurden die Unterschiede zwischen Krippen- und Kindergartenpädagogik verwischt, sodass in manchen Kindertageseinrichtungen mit weit altersgemischten Gruppen die sich auf Kleinkinder beziehenden Vorgaben für die unter Dreijährigen nur „heruntergebrochen“ werden – also deren altersspezifischen Bedürfnisse zu wenig berücksichtigt werden.
- Qualitätskriterien und handhabbare Verfahren zur Qualitätssicherung in Kinderkrippen, Tagespflege, Kindergarten und Hort im Rahmen der „Nationalen Qualitätsinitiative" entwickelt wurden, bevor die zu berücksichtigenden Schlüsselkompetenzen und Bildungsinhalte in den Orientierungsplänen festgelegt wurden.
- eine öffentliche Überprüfung der Qualität frühkindlicher Bildung in den einzelnen Einrichtungen und in der Tagespflege ausbleibt, obwohl die bisher einzige deutsche Längsschnittuntersuchung (Tietze 1998) ergab, dass die Entwicklungsunterschiede bei Kindern, die auf die pädagogische Qualität im Kindergarten zurückgeführt werden können, im Extremfall einem Altersunterschied von einem Jahr entsprechen. Da somit eine schlechte Kindertagesbetreuung die Entwicklung von Kindern stark beeinträchtigen kann, ist es nicht verständlich, wieso Trägerverbände und Kommunen die auf die einzelnen Kindertageseinrichtungen bezogenen Ergebnisse ihres Qualitätsmanagements unter Verschluss halten.
So können sich letztlich nur die Eltern selbst durch eigene Erfahrung bzw. durch die Nutzung von Netzwerkkontakten einen Eindruck davon verschaffen, wie gut eine Kindertageseinrichtung bzw. Tagespflegeperson ist. Dadurch ergeben sich neue Ungerechtigkeiten im System der Fremdbetreuung: Insbesondere Eltern mit einer hohen Bildung suchen ganz gezielt nach qualitativ guten Betreuungsangeboten für ihre Kinder, während sich die von ihrem sozialen Hintergrund sowieso schon benachteiligten Kinder in anderen Einrichtungen ballen. Das lässt sich gut am Beispiel der Migrantenkinder nachweisen: Bundesweit gesehen (ohne Berlin) hatten 2006 in 9,2% aller Kindertagesstätten schon mehr als die Hälfte und in 3,4% der Einrichtungen sogar mehr als drei Viertel aller Kinder einen Migrationshintergrund (Leu 2008, S. 163).
Da Mittelschichtseltern schon vor Beginn der Wirtschaftskrise eine große Angst vor dem sozialen Abstieg hatten (Merkle/Wippermann 2008) – die sich inzwischen verschärft haben dürfte –, legen sie großen Wert auf eine gute Bildung ihrer Kinder, da diese in der sich anbahnenden Wissensgesellschaft am ehesten einen sicheren Arbeitsplatz garantiere. Oftmals haben sie sich intensiv mit den Erkenntnissen von Hirnforschung, Entwicklungs- und Lernpsychologie befasst, sind sich somit der Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildungslaufbahn ihres Kindes bewusst und wollen deshalb, dass es bestmöglich gefördert werde. Deshalb üben sie einen großen Druck auf die von ihnen ausgewählte Kindertageseinrichtung aus, eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung zu leisten.
Aber auch die Wirtschaft erwartet, dass die Bildung in der frühen Kindheit intensiviert wird. So ist aufgrund der Globalisierung der nun weltweite Wettbewerb härter geworden, kann Deutschland seine Position als „Exportweltmeister“ nur verteidigen (oder wieder gewinnen), wenn die Unternehmen bei der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung „an vorderster Front stehen“. Jedoch studiert in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ein kleinerer Prozentsatz eines Geburtsjahrgangs, und dann werden auch noch seltener die für die Wirtschaft wichtigen Natur- und Ingenieurwissenschaften gewählt. So sollen Kinder durch frühkindliche Bildung nicht nur allgemein gefördert werden, sondern auch ihr Interesse an Mathematik, Naturwissenschaft und Technik soll geweckt werden. Diese Erwartungen schlagen sich – vermittelt durch Politik und Verwaltung – in den Bildungsplänen nieder, zeigen sich aber auch in an Kindertageseinrichtungen gerichteten Initiativen von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen (z.B. Wettbewerb „Es funktioniert?! – Kinder in der Welt der Technik“ (Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft), „Schlaumäuse – Kinder entdecken Sprache“ (Microsoft), Forscherkisten für Kindertageseinrichtungen (Siemens)). Sogar schon für Zweijährige wurden naturwissenschaftlich-technische Experimente zusammengestellt, die von Erzieher/innen in ihren Gruppen durchgeführt werden können (z.B. Kieninger 2008a, b, c).
Die Wirtschaft verweist darauf, dass die Gesellschaft von einer Verbesserung der frühkindlichen Bildung profitieren würde. So hat eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln gezeigt (Anger/Plünnecke/ Tröger 2007), dass öffentliche Investitionen in die Qualität der frühkindlichen Bildung (z.B. Einführung von Mindeststandards, Förderpauschalen für die individuelle Unterstützung von Kindern mit Entwicklungsdefiziten, Höherqualifizierung des Personals in Verbindung mit einem höheren Gehalt, aber auch Ganztagsbetreuung an Grundschulen u.a.) volkswirtschaftlich sinnvoller als rein quantitative Maßnahmen sind (z.B. Ausbau der Kindertagesbetreuung, Kostenfreiheit für Eltern). Während Letzteres sich nur mit 3% für den Staat rentieren würde, könnten mit allen für notwendig erachteten Maßnahmen eine Rendite von rund 8% für den Staat und sogar von circa 13% für die Volkswirtschaft erzielt werden. Die zusätzlichen Aufwendungen werden mit durchschnittlich 6 Mrd. EUR pro Jahr beziffert, die aus der „demographischen Rendite“ (abnehmende Kosten aufgrund der zurückgehenden Kinderzahlen) des Bildungssystems gegenfinanziert werden könnten.
Die sozialpolitische Perspektive
Eine Intensivierung der frühkindlichen Bildung wird von der Wirtschaft noch aus einem weiteren Grund für wichtig erachtet: Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung werden in den kommenden Jahren immer weniger junge Menschen die Schulen verlassen. Der Wirtschaft geht also der Nachwuchs aus, und so werden zwei bisher eher ignorierte Gruppen in den Blick genommen: Kinder aus sozial schwachen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund – wobei es natürlich Überschneidungen zwischen beiden Populationen gibt. Diese Kinder verlassen die Schule überdurchschnittlich häufig ohne Abschluss oder mit schlechten Noten. Sie sind aufgrund ihrer mangelnden Kompetenzen für Ausbildungsberufe kaum geeignet.
Kinder aus sozial schwachen und zugewanderten Familien bilden somit eine Arbeitsmarktreserve – vorausgesetzt, ihre Bildung kann verbessert werden. Und hier wird wieder bei der frühen Kindheit angesetzt: Besuchen Kinder mit Migrationshintergrund bereits mit zwei, drei Jahren eine Kindertageseinrichtung, ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass sie die deutsche Sprache so gut lernen, dass sie in der Schule mit anderen Kindern mithalten können. Deshalb haben alle Bundesländer in den letzten Jahren flächendeckend Sprachstandserhebungen und besondere Sprachförderprogramme eingeführt (die auch deutsche Kinder mit Sprachdefiziten einbeziehen). Derzeit schicken Migranteneltern ihre Kinder aber noch später bzw. kürzer als deutsche Eltern in Kindertagesstätten und scheinen laut einer Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung auch qualitativ weniger gute Einrichtungen auszuwählen (Becker 2007). So müssten sie direkt auf Kinderbetreuungsangebote (für unter Dreijährige) aufmerksam gemacht und zu deren Nutzung motiviert werden.
Bei Kindern aus armen und bildungsfernen Familien – rund 15 bis 20% aller Kinder – ist die Problematik komplexer: Sie wachsen in einem anspruchslosen und anregungsarmen Umfeld auf. Ihre Eltern sind oft abgestumpft oder überfordert, kümmern sich kaum um sie und stimulieren ihre Entwicklung nur ansatzweise. Sie sprechen wenig mit ihnen, lesen ihnen nicht vor, lassen sie stundenlang fernsehen. So entwickeln die Kinder wenig intellektuelle Interessen und kognitive Kompetenzen, sind Lernfreude und Leistungsmotivation kaum ausgeprägt, ist der Wortschatz klein und wenig differenziert, mangelt es ihnen an kommunikativen Fertigkeiten. Hinzu kommt, dass sie später als andere Kinder in Kindertageseinrichtungen angemeldet werden: Während 33,4% der Mütter mit Fachhochschul- bzw. Hochschulabschluss laut einer Auswertung von Daten des Sozio-ökonomischen Panels im Jahr 2006 ihr unter dreijähriges Kind in einer Kindertageseinrichtung betreuen ließen, waren es nur 9,7% der Mütter ohne Schulabschluss bzw. mit Hauptschulabschluss (Fuchs-Rechlin 2008, S. 207).
Für Kleinkinder aus sozial schwachen Familien gibt es in Deutschland keine etablierten kompensatorischen Förderprogramme. Aber auch bei ihnen wird davon ausgegangen, dass sie von einer möglichst früh – vor dem dritten Lebensjahr – beginnenden Fremdbetreuung profitieren werden. Hier wird oft auf die Analysen des US-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers James Heckman verwiesen (z.B. Funcke 2008). Er wertete relevante wissenschaftliche Studien aus und kam zu dem Ergebnis, dass amerikanische Förderprogramme für benachteiligte Kleinkinder (z.B. das „Perry Preschool Project“ und die „Carolina Abecedarian Study“) dazu führen, dass diese in der Schule seltener sitzen bleiben, häufiger einen Schulabschluss erwerben, eher an einer Hochschule studieren und im Erwachsenenalter seltener durch Kriminalität, Drogensucht usw. negativ auffallen. Für Heckman ist entscheidend, dass Kleinkinder Neugier, Lernmotivation, Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen usw. entwickeln und sich frühzeitig Wissen aneignen, da Lernen ein spiralförmiger Prozess sei, bei dem auf zuvor Erworbenem aufgebaut werde. Ein Kind, das während der Kleinkindheit nicht ein gewisses Fundament aufbaut, habe in der Schule weniger Chancen. Erst dann einsetzende Interventionen seien kostspieliger und weniger erfolgversprechend als Fördermaßnahmen in der frühen Kindheit. Armut könne am besten durch (frühkindliche) Bildung bekämpft werden.
Sozialpolitiker/innen haben noch eine dritte Gruppe von Kindern im Fokus – solche, die unabhängig vom sozialen Status ihrer Familie unter (Wohlstands-) Verwahrlosung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch leiden, die in ihrer psychischen Entwicklung durch sich über viele Jahre erstreckende Streitigkeiten ihrer Eltern, durch Trennung und Scheidung beeinträchtigt werden, deren Eltern in der Erziehung unsicher, verwöhnend oder überbehütend sind, keine Grenzen setzen können usw. Je früher diese Kinder in Tageseinrichtungen betreut werden, umso eher werden Defizite ihrer familialen Sozialisation offensichtlich, umso schneller kann einer Kindeswohlgefährdung begegnet werden, desto leichter lassen sich Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme beheben. Vor allem aber kann vermieden werden, dass es später zu kostspieligen „Erziehungshilfe-Fällen“ kommt (Unterbringung der Kinder in Heimen bzw. Pflegefamilien).
Erzieher/innen sollen also vernachlässigte und misshandelte Kinder, Eltern mit Erziehungsschwierigkeiten oder familialen Belastungen sowie Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen so früh wie möglich identifizieren und ihnen relevante Hilfen psychosozialer Dienste vermitteln (also von Frühförderstellen, Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen, medizinischen Einrichtungen usw.). Auch sollen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Eltern bei Erziehungsfragen und anderen Problemen beraten. Da in Kindertageseinrichtungen erstmalig alle Eltern mit Kleinkindern erreicht werden, könnte durch dort angesiedelte familienbildende Angebote wie Elternabende, Kurse und Gesprächskreise die Familienerziehung positiv beeinflusst werden.
Ferner wird seitens der Politik erwartet, dass Erzieher/innen, Tagespflegepersonen und Eltern prinzipiell bei der Erziehung und Bildung von Kindern eng zusammenarbeiten. So wird in den Bildungsplänen der Bundesländer eine „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ gefordert: Beide Seiten sollen in enger Kooperation das Kindeswohl und eine positive Entwicklung des jeweiligen Kindes sicherstellen.
Die bevölkerungspolitische Perspektive
Viele Politiker/innen hoffen, dass der Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige und die Verlängerung der Öffnungszeiten auch zu einer Steigerung der Geburtenrate führen wird. Hier wird vor allem auf die skandinavischen Länder und auf Frankreich verwiesen, die aufgrund bedarfsdeckender Kinderbetreuungssysteme viel höhere und (nahezu) bestandserhaltene Geburtenquoten erreicht hätten. Während die Gesamtfruchtbarkeitsrate im Jahr 2007 für Deutschland mit 1,39 Kindern beziffert wurde, betrug sie in Schweden und Dänemark 1,85, in Finnland 1,83 und in Frankreich sogar 1,98 (Schipfer 2008, S. 16). In diesen Ländern müssten Frauen nach der Geburt eines Kindes nicht die eigene ökonomische Selbständigkeit aufgeben, da parallel zu familienpolitischen Leistungen und Ansprüchen gegenüber dem Arbeitgeber „die Angebote institutioneller Betreuung in Krippe, Kindergarten bzw. Kindertagesbetreuung sowie Schule als eine Ergänzung und Bereicherung der elterlichen Fürsorge begriffen werden. Solche Systeme konnten nur entwickelt werden, weil die Überzeugung vorherrscht, dass Kinder eben nicht nur eine private Angelegenheit ihrer Eltern darstellen, sondern die Gesellschaft gemeinsam mit den Eltern zum Wohl des Kindes und seiner Entwicklung zusammenwirken, weil die positiven Folgen einer gelungenen kindlichen Entwicklung den Eltern und der Gesellschaft nutzen“ (Sachverständigenkommission Siebter Familienbericht 2005, S. 110).
Diese Aussage aus dem Siebten Familienbericht verdeutlicht zugleich, dass in den vorgenannten Ländern großer Wert auf eine hohe Qualität der Kindertagesbetreuung gelegt wird, sodass Eltern ihre Kinder mit gutem Gewissen frühzeitig in die Obhut gut qualifizierter Fachkräfte geben können. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung verweist aber auch auf quantitative Aspekte: Nur ein deutlicher Angebotsausbau – bezogen auf die Zahl der Plätze für unter Dreijährige und die Dauer der Betreuungszeit (inklusive deren Flexibilität, M.T.) – würde signalisieren, dass Familie und Beruf miteinander vereinbar sind und die Entscheidung für ein erstes (bzw. weiteres) Kind erleichtern (Hank/Kreyenfeld/Spieß 2003).
In diesem Kontext soll daran erinnert werden, dass Ende des letzten Jahrhunderts die Kindertagesbetreuung eine große Rolle in der Debatte um die Reform von § 218 Strafgesetzbuch spielte. So wurde 1995/96 der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zwecks Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen eingeführt – nicht aufgrund frauen-, familien-, wirtschafts- oder bildungspolitischer Erwägungen. Natürlich könnte auch durch die Reduzierung der Zahl von Abtreibungen die Bevölkerungsentwicklung positiv beeinflussen werden (im Jahr 2007 wurden knapp 120.000 Schwangerschaftsabbrüche registriert).
Fazit
In diesem Kapitel wurde verdeutlicht, dass Erziehung und Bildung nach Vollendung des ersten Lebensjahres zunehmend vergesellschaftet werden. Dabei stehen frauen-, wirtschafts-, bildungs-, sozial- und bevölkerungspolitische Zielsetzungen und Anforderungen im Vordergrund. Bisher scheinen Bund, Länder und Kommunen aber noch nicht bereit zu sein, die aus einer Vergesellschaftung der frühkindlichen Bildung resultierenden Konsequenzen zu ziehen – also den Elementarbereich mit den nötigen finanziellen Ressourcen auszustatten und eine hohe Qualität der Betreuungsangebote sicherzustellen. So wird ignoriert, dass insbesondere die Länder, die bei internationalen Vergleichsuntersuchungen wie IGLU und PISA besonders gut abschnitten und für eine hochwertige frühkindliche Bildung bekannt sind, bei weitem mehr Geld als Deutschland in den Elementarbereich investieren: Laut der OECD-Studie „Starting Strong“ gibt Dänemark 2,1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für vorschulische Bildungs- und Betreuungsangebote aus, Schweden 1,9%, Norwegen 1,7%, Finnland 1,1% und Frankreich 1,0%, während die Bundesrepublik mit 0,53% des BIP weit unter diesen Werten liegt (OECD 2006).
In den folgenden Kapiteln wird immer wieder betont, dass die Qualität der Betreuungsangebote für unter Dreijährige in Deutschland noch unbefriedigend sei. Wie aber können schlecht qualifizierte Erzieher/innen, Kinderpfleger/innen und Sozialassistent/innen unter Rahmenbedingungen wie große Gruppen, hoher Erzieherin-Kind-Schlüssel, mangelnde Verfügungszeit usw. den in den Bildungsplänen der Bundesländer formulierten Ansprüchen an die frühkindliche Bildung genügen? Wie können sie bei diesen Gegebenheiten eine intensive Sprachförderung bei Migrantenkindern leisten und auf Kindern aus sozial schwachen Familien kompensatorisch einwirken? Wie soll unter diesen Voraussetzungen das Recht von unter Dreijährigen auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse, auf sichere Bindungen, auf eine allseitige, ganzheitliche Entwicklung und auf ein glückliches Leben gewährleistet werden? Auf diese Fragen haben Wirtschaft und Politik noch keine adäquaten Antworten gegeben...
Quelle
Aus: Maria-Theresia Münch/ Martin R. Textor (Hg.): Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige zwischen Ausbau und Bildungsauftrag. Berlin: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 2009, S. 13-28
Literatur
Anger, C./ Plünnecke, A.: Frühkindliche Förderung. Ein Beitrag zu mehr Wachstum und Gerechtigkeit. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2008
Anger, C./ Plünnecke, A./ Tröger, M.: Renditen der Bildung – Investitionen in den frühkindlichen Bereich. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2007
Becker, B.: Bedingungen der Wahl vorschulischer Einrichtungen unter besonderer Berücksichtigung ethnischer Unterschiede. Mannheim: Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 2007
Bien, W./ Rauschenbach, T./ Riedel, B.: Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie. München: Deutsches Jugendinstitut 2007
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Einnahmeeffekte beim Ausbau von Kindertagesbetreuung. Wesentliche Ergebnisse des Gutachtens des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin. Berlin: Selbstverlag 2002
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