Sozialerziehung und Konfliktbewältigung
Martin R. Textor
Kleinkinder sind von Natur aus soziale Wesen, die Bindungen und Beziehungen zu Erwachsenen und Kindern aufbauen wollen. Sie suchen in der Interaktion mit anderen nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse, nach positiven (Lern-) Erfahrungen und nach angenehmen Gefühlen. Werden ihre Erwartungen erfüllt, entwickeln sie sich in der Regel gut; ist dies nicht der Fall, werden sie oft "schwierig" und schließlich sogar verhaltensauffällig.
Kleinkinder eignen sich viele soziale Kompetenzen im Zusammenleben mit anderen Kindern in der Kindergartengruppe an. Sie nehmen über Mitspielen, Geben, Teilen usw. Kontakt zu anderen auf, probieren verschiedene Verhaltensweisen aus, lernen durch Versuch und Irrtum, ahmen weiter entwickelte Kinder nach etc. So lernen sie allmählich, wie man mit anderen Kindern interagiert, dass man deren Willen und Besitz respektieren muss, wie in Kleingruppen Entscheidungen getroffen werden, dass bei unterschiedlichen Wünschen und Bestrebungen Kompromisse sinnvoll sind, wie man Probleme löst, dass man auf kleinere und schwächere Kinder Rücksicht nehmen muss und vieles anderes mehr.
Aufgrund des hohen Erzieherin-Kind-Schlüssels und der vielen Aufgaben der Fachkräfte hat ein Kleinkind nur selten die Möglichkeit, (länger) mit einem der beiden Erwachsenen in der Kindergartengruppe zu interagieren. Dennoch kommt in seinem Erleben den Beziehungen zu den beiden Fachkräften - oder zumindest zu einer - eine große Bedeutung zu: Diese sind oft nach den Eltern die wichtigsten Bindungspersonen in seinem Leben, wobei die Qualität der Bindungen darüber bestimmt, wie aktiv, (welt-) offen, neugierig, selbstsicher und mutig das Kind seine Umwelt erforscht und Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufnimmt.
Je jünger ein Kleinkind ist, umso wichtiger ist, dass es während des Übergangs von der Familie in die Kindertageseinrichtung eine sichere Bindung an zumindest eine Fachkraft aufbauen kann. Nur wenn es sich geborgen, behütet und unterstützt fühlt, wird es sich von seinen Eltern lösen, auf die noch unbekannten Kinder zugehen und die neue Umgebung erkunden.
Eine zentrale Aufgabe von Erzieher/innen ist somit, dem jeweiligen Kleinkind den Aufbau einer sicheren Bindung zu ermöglichen, indem sie ihm insbesondere in den ersten Wochen nach der Aufnahme in die Kindertageseinrichtung viel Zeit widmet, ihm Zuwendung, Zuneigung und Fürsorge erweist, es ermutigt, ihm eine Zuflucht bietet und es bei Bedarf tröstet.
Eine weitere wichtige Aufgabe der Fachkräfte ist zu beobachten, wie Kinder ihre Beziehungen gestalten, und einzugreifen, wenn ein Kind Unterstützung bei der Entwicklung sozialer Kompetenzen benötigt. So zeigen Erzieher/innen z.B. einem schüchternen Kind, wie man mit einem anderen Kind Kontakt aufnimmt, wie man es zum Mitspielen "einlädt" und wie man sich einer Kleingruppe anschließt. Auf diese Weise lernt das Kleinkind, neue Beziehungen aufzubauen und zu gestalten. In diesem Kontext ist auch wichtig, dass Erzieher/innen mit Kindern über ihre Empfindungen sprechen, sodass diese sich ihrer Gefühle bewusst werden und sie benennen können.
Manche Kinder haben in ihren Familien ein eher problematisches Sozialverhalten erworben - und das beginnt oft schon mit der Lautstärke beim Sprechen: "Die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern sind das Lebenselixier für jedes Kind, und die Art, wie ein Kind spricht, beeinflusst die Zuwendung der Eltern: Ein Kind mit einer lauten Stimme oder ein Kind, welches den ganzen Tag redet, bindet offensichtlich die Aufmerksamkeit der Eltern. Ein lispelndes Kind sendet mit jedem Satz die Botschaft ins Unterbewusstsein der Eltern: 'Ich bin doch noch ssso klein!' Aber auch ein Kind mit einer leisen Stimme kann die Erfahrung machen, dass dies die Zuwendung der Erwachsenen intensiviert, da eine leise Stimme Hilfsbedürftigkeit signalisiert" (Dernick/ Küstenmacher 2008, S. 64).
Solche und ähnliche, in der Familie gelernten Strategien werden (zunächst) auch in der Kindertageseinrichtung eingesetzt. Einige von ihnen bringen hier nicht den erwarteten Erfolg und werden deshalb von den Kindern bald von sich aus aufgegeben. Andere sind erfolgreicher, selbst wenn sie von den Erzieher/innen und den anderen Kindern nicht positiv beurteilt werden. In diesen Fällen gilt es, die problematischen Strategien zu ignorieren und akzeptable Ansätze zu verstärken. Das ist oft recht schwierig, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Kinder, die aus ihren Familien fast nur negative Zuwendung kennen, provozieren diese auch im Kindergarten. Sie lassen zunächst liebevolles Verhalten nicht an sich heran. Nur wenn Erzieher/innen (und andere Kinder) sehr beharrlich sind, akzeptieren die Kinder es mit der Zeit. Dabei muss aber auch deutlich gezeigt werden, unter welchen Voraussetzungen positive Zuwendung erwirkt werden kann.
In einigen Fällen führt das Verhalten des Kindes aber auch dazu, dass es von den anderen Kindern abgelehnt und gemieden wird. Hier muss die Fachkraft versuchen, einerseits das Verhalten des Kindes zu ändern und andererseits den anderen Kindern eine neue Perspektive zu vermitteln, indem sie auch die positiven Verhaltensweisen und Eigenschaften des jeweiligen Kindes aufzeigt.
Da die sozialen und kommunikativen Kompetenzen von Kleinkindern noch nicht ausgereift sind, entstehen relativ häufig Konflikte in der Kindergartengruppe. In vielen Fällen eskalieren sie, sodass die Fachkräfte eingreifen, sich raufende Kinder trennen und weinende Kinder trösten müssen. In den anderen Fällen sollten sie hingegen nicht sofort intervenieren, sondern zunächst abwarten, ob die Kinder ihren Konflikt selbst klären können. Ist dies nicht der Fall, sollten Erzieher/innen möglichst nicht den Schiedsrichter spielen bzw. eine Lösung vorgeben. Sinnvoller ist es, diese Chance zu nutzen, um mit den betroffenen Kindern eine Konfliktlösung zu erarbeiten, sodass diese relevante Kompetenzen entwickeln können und Erfolg versprechende Vorgehensweisen kennen lernen.
So kann die Fachkraft die Rolle einer neutralen Vermittlerin übernehmen, welche die Verantwortung für ein "friedliches" Gespräch übernimmt, in dem beide Parteien eine einvernehmliche Lösung für ihr Problem finden können. Als Mediatorin führt sie die Kinder durch folgende fünf Phasen der Konfliktklärung (nach Kolthoff 2006, S. 70):
- Einleitung: Die Fachkraft sucht mit den streitenden Kindern einen ruhigen Ort auf. Sie beruhigt aufgeregte Kinder und tröstet weinende. Dann erklärt sie ihnen die Grundregeln für das folgende Gespräch (z.B. dass immer nur ein Kind sprechen darf).
- Konfliktdarstellung: Jedes Kind beschreibt seine Sichtweise vom Konflikt. Die Fachkraft hört aktiv zu, wiederholt Wichtiges und klärt Unverständliches.
- Konfliktbearbeitung: Die Hintergründe für den Streit werden erhellt, z.B. die zugrunde liegenden unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse. Die Fachkraft klärt die Gefühle der Kinder, benennt sie und spiegelt sie zurück. Am Ende dieser Phase sollten die Kinder die Position und Situation der jeweils anderen Konfliktpartei verstehen.
- Problemlösung: Die Fachkraft fordert die Kinder auf, Vorschläge für die Lösung des Konflikts zu machen. Sie wertet die Alternativen nicht, sondern versucht die Kinder dahin zu führen, dass sie sich selbst für eine Möglichkeit entscheiden.
- Vereinbarung: Alle betroffenen Kinder stimmen dem jeweiligen Kompromiss zu. Sie geben einander die Hand als Zeichen, dass sie sich wieder vertragen. Manchmal benötigen sie dann noch die Hilfe der Fachkraft hinsichtlich der Umsetzung der ausgewählten Konfliktlösung.
So lernen Kinder, sich auf den Dialog mit der anderen Konfliktpartei einzulassen, deren Gefühle wahrzunehmen und deren Position zu verstehen. Kolthoff (2006) betont, dass ein konstruktiver Umgang mit Konflikten nicht dazu führt, dass sich ein Kind als Gewinner und ein anderes als Verlierer erlebt oder dass die Kinder anschließend Streitigkeiten vermeiden: "Das Ziel bei einer Konfliktbearbeitung besteht darin, eine gemeinsame Lösung, einen Konsens zu finden - eine so genannte 'Win-Win'-Lösung: Jeder gewinnt am meisten, wenn beide gewinnen!" (S. 61). Die Fachkraft ist somit nicht für die Konfliktlösung verantwortlich, sondern nur für den zu ihr führenden Weg: Kinder "sind sehr gut in der Lage, eigene Lösungen für ihren Streit zu finden. Und diese Lösungen sind oft so fantasievoll und ungewöhnlich, dass man als Erwachsener nur darüber staunen kann. Wichtig ist es, dass die Erzieherin diese Lösungen nicht wertet oder in Frage stellt. Die Problemlösung der Kinder muss nicht die Lösung der Erzieherin sein" (a.a.O., S. 71).
Eine weitere wichtige Aufgabe von Erzieher/innen ist es, Gruppenprozesse zu beeinflussen und dem einzelnen Kind die Möglichkeit zu geben, sich in der ganzen Gruppe zu profilieren. Dies wird z.B. durch einen Morgenkreis oder eine Kinderkonferenz erleichtert: Hier erleben sich alle Kinder als Mitglieder einer großen Gruppe, nehmen einander bewusst wahr und entwickeln eine Gruppenidentität. Sie können über das sprechen, was sie gerade bewegt, wobei sie bestimmte Gesprächsregeln befolgen müssen (solche Interaktionen können natürlich auch in kleinerem Rahmen stattfinden, z.B. bei von der Fachkraft angeleiteten Tisch- oder Kleingruppengesprächen). Jedes Kind lernt auf diese Weise, eigene Wünsche, Meinungen und Erlebnisse vor vielen anderen Kindern zu äußern, und erlebt dann, wie seine Äußerungen aufgegriffen und diskutiert werden. Diese Erfahrung trägt zur Entwicklung von Selbstvertrauen und positiven Selbstwertgefühlen bei. Im Stuhlkreis bzw. in der Kinderkonferenz können auch gemeinsam Gruppenregeln aufgestellt und deren (Nicht-) Befolgung besprochen werden. So werden Partizipation und Selbstregulation der Kinder gefördert.
Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass das Vorbild der Erzieher/innen von großer Bedeutung für die soziale Entwicklung von Kleinkindern ist, da diese insbesondere das Verhalten ihrer Bindungspersonen nachahmen. Aber auch der Umgang der Fachkräfte miteinander in der Gruppe bzw. in der Kindertageseinrichtung ist wichtig - dadurch werden sogar die Erwachsenen von morgen geprägt, wie Baker und Manfredi/Petitt (2004) verdeutlichen: "Interaktionen zwischen Erwachsenen bestimmen den Ton in einer Gruppe und lehren - eher indirekt - Kinder über die Welt, in der sie leben... Wenn signifikante Erwachsene im Leben eines jungen Kindes distanziert, formell und nur aus Pflicht - oder schlimmer, respektlos, wütend und kontrollierend - miteinander umgehen, internalisieren Kinder diese Haltungen als charakteristisch für das, was es heißt, 'erwachsen' zu sein" (S. 2)...
Literatur
Baker, A.C., Manfredi/Petitt, L.A.: Relationships, the heart of quality care. Creating community among adults in early care settings. Washington, D.C.: National Association for the Education of Young Children 2004
Dernick, R., Küstenmacher, W.T.: Topfit für die Schule durch kreatives Lernen im Familienalltag. München: Kösel 2008
Kolthoff, M.: Gesprächskultur mit Kindern. klein & groß PraxisExpress. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2006