Stieffamilie leben

Martin R. Textor

 

Sie leben also in einer "Zweitfamilie". Und nun haben Sie erkannt, dass diese Lebenssituation doch etwas anderes ist als das Zusammenleben in einer "Erstfamilie"? Gratuliere, diese Erkenntnis ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bewältigung der vielen spezifischen Herausforderungen und Probleme, die Ihre Lebensform kennzeichnen!

Den Sonderstatus akzeptieren

Eine der größten Aufgaben für Sie und Ihre Familienmitglieder ist, den Sonderstatus von Stieffamilien zu erkennen und anzunehmen. Verdeutlichen Sie sich die Besonderheiten Ihrer Familiensituation, z.B. die vorausgegangene Erfahrung des Lebens in einer vollständigen und/oder Teilfamilie, das Erleben der Trennung bzw. Scheidung oder des Todes eines Partners, die lange Vorgeschichte des leiblichen Elternteils und seiner Kinder versus der kurzen gemeinsamen Familiengeschichte, die Existenz eines außenstehenden Elternteils mit Sorge- oder Besuchsrecht, die fehlenden gesetzlich begründeten Elternrechte des Stiefelternteils (außer nach einer Stiefkindadoption), die gesellschaftlich nicht normierte Stiefelternrolle, die Überschneidung verschiedener Phasen des Familienzyklus usw. Machen Sie sich die Komplexität Ihrer Lebenssituation bewusst: Die Kinder sind nicht nur Mitglieder der Stieffamilie, sondern auch des Haushalts des außenstehenden Familienmitglieds, und bilden das Bindeglied (den Kommunikationskanal) zwischen beiden Seiten einschließlich der Verwandtschaftssysteme. Dies hilft Ihnen vielleicht, Abschied von der Vorstellung zu nehmen, eine "Normalfamilie" zu sein und ganz von vorne beginnen zu können.

Ein Tipp: Setzen Sie sich mit Ihrem Partner in Ruhe zusammen, legen Sie einige Blatt Papier und einen Stift vor sich hin und bearbeiten Sie folgende Aufgabenstellungen:

  1. Schreiben Sie chronologisch die Vorgeschichte Ihrer Stieffamilie nieder: Wann wurden frühere Ehen bzw. Partnerschaften eingegangen? Wann begann die Trennungsphase? Wann wurde die Scheidung ausgesprochen? Wann starb der erste Partner? Wie lange hat eine/r von Ihnen das Kind/die Kinder allein erzogen? Welches "Vorleben" hat der Partner, der zuvor unverheiratet war? Wann haben Sie einander kennengelernt?
  2. Machen Sie eine Skizze von Ihrem Familiensystem: Aus welchen Subsystemen (der früheren Teilfamilie - es können auch zwei Teilfamilien sein -, dem dazu gekommenen Erwachsenen usw.) besteht Ihre Stieffamilie? Hat sich ein Paarsubsystem (also eine zu den Kindern hin abgegrenzte Paarbeziehung) herausgebildet? Ist ein Geschwistersubsystem entstanden? (Das heißt: Haben sich geschwisterliche Beziehungen zwischen Stief- und/oder Halbgeschwistern herausgebildet?) Aus welchen Subsystemen besteht das Verwandtschaftssystem? Aus drei oder vier Großelternpaaren? Aus ein oder zwei geschiedenen, sorge- bzw. umgangsberechtigten Elternteilen? Mit oder ohne neuen Partner/innen bzw. Kindern? Besprechen Sie dann die Beziehungen zwischen Ihrer Stieffamilie und den sie umgebenden Subsystemen des Verwandtschaftssystems: Wie intensiv ist die Beziehung/der Kontakt zu dem/den geschiedenen Ex-Partner/n? Wie oft sind die Kinder dort bzw. bei dessen Eltern? Werden Sie von den bei Ihrem Ex-Partner lebenden gemeinsamen Kindern besucht? Wo ist der Kontakt abgebrochen oder negativ gefärbt?

Chronologie und Skizze werden Ihnen ganz deutlich die von "Normalfamilien" abweichende Entwicklung Ihrer Stieffamilie und die außerordentlich komplizierte Struktur des Verwandtschaftssystems verdeutlichen. Sie werden sich der Charakteristika Ihrer Familie bewusst. Zugleich wird deutlich, welche Probleme auf Besonderheiten der Stieffamiliensituation zurückzuführen und welche allgemeiner Natur sind.

Die Subsysteme integrieren

Der nächste Schritt ist, die Stieffamilie als ein Ganzes zu sehen, ihre Subsysteme (d.h. das der Stieffamilie vorausgehende Elternteil-Kind[er]-Subsystem, der neu hinzu gekommene Ehepartner, das gemeinsame Kind) zu einer Einheit zu verknüpfen, sich als eine Gemeinschaft zu erleben. Wenn die Mitglieder die Stieffamilie als eine gemeinsame Verantwortung betrachten, dann wird sich das Zusammenleben positiv gestalten.

Die Hauptverantwortung liegt natürlich bei Ihnen als Paar: Sie sind die "Architekten" Ihrer Familie. Oft werden Sie aber von Ihrer "Arbeit" durch Ehekonflikte abgelenkt. Manchmal haben Sie aber diese verdrängt, da Sie als Paar nicht erneut scheitern wollen. Vielfach verdecken Eheprobleme auch Konflikte zwischen Eltern und Kindern. In diesen Fällen müssen Sie die Konflikte aufdecken und bearbeiten. Haben Sie damit Schwierigkeiten, sollten Sie eine Eheberaterin oder einen frei praktizierenden Psychologen konsultieren.

Gemeinsam die Leitung übernehmen

Ihr Ziel als Paar sollte es sein, den Kindern gegenüber und nach außen hin als gemeinsam handelnder Familienvorstand aufzutreten. Dazu müssen Sie Ihr Ehesubsystem gegenüber dem Subsystem der Kinder abgrenzen. Ferner ist wichtig, dass Sie sich hinsichtlich der Verteilung der erzieherischen Verantwortung einigen und einen gemeinsamen Erziehungsstil entwickeln. Häufig müssen Regeln, Erwartungen, Arbeitsteilung, Autoritätsstrukturen, Bedürfnisse und Wünsche abgeklärt werden. Es gibt hier nicht den richtigen Weg, sondern jedes Ehepaar muss seinen eigenen Weg finden.

Die Rolle des Stiefelternteils definieren

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, auch die Rolle des Stiefelternteils zu klären - welche Erziehungsrechte er erhält, ob er den Kindern gegenüber eher ein dritter Elternteil, ein Freund oder eine Art "Onkel" bzw. "Tante" sein soll. Sie sollten als leiblicher Elternteil den Kindern gegenüber deutlich machen, dass der Stiefelternteil den außenstehenden oder gestorbenen Elternteil nicht ersetzen kann und dass er nicht die sofortige Liebe und den Gehorsam der Kinder beanspruchen wird - zumeist muss erst eine freundschaftliche, vertrauensvolle Beziehung zwischen ihm und den Kindern entstehen, bevor seine Autorität anerkannt wird. Auch dürfen Sie Ihre Kinder nicht zwingen, ihn "Vater" oder "Mutter" zu nennen, wenn sie nicht wollen. Bedenken Sie als leiblicher Elternteil ferner, dass in der Phase der Teilfamilie die Beziehung zu Ihren Kindern sehr eng geworden ist - es verlangt Ihrerseits schon ein gehöriges Maß an Überwindung, diese enge Bande wieder zu lockern und einen Teil der Erziehungsverantwortung an den neuen Partner abzutreten. Und wenn sich Ihre Kinder beschweren, müssen Sie zu Ihrem Partner stehen. Keinesfalls dürfen Sie die Erziehungsversuche des Stiefelternteils unterminieren!

Wenn Sie als der/die Neue erst vor kurzem und unvorbereitet die Stiefelternrolle übernommen haben, sollten Sie sich eingestehen, dass Sie wenig Erziehungserfahrung haben. Halten Sie sich erst einmal zurück und beobachten Sie: Was für einen Erziehungsstil hat Ihr Partner? Wie diszipliniert er seine Kinder? Wie beschäftigt er sie? Auf diese Weise vermeiden Sie nicht nur Erziehungsschwierigkeiten und Konflikte mit dem Partner, dem Ihre ersten Erziehungsbemühungen nicht zusagen, sondern auch - und das ist viel wichtiger - die Ablehnung oder den Rückzug der Stiefkinder. Diese sind in der Regel nicht bereit, Sie sofort als "Erzieher" oder gar als neuen Elternteil zu akzeptieren. Zumeist dauert es viele Monate (bei kleineren Kindern) oder gar Jahre (bei älteren Kindern), bis Sie als "Elternteil" gesehen werden. Sie brauchen also viel Geduld. Hinterfragen Sie auch zu hohe Erwartungen an sich selbst (Ich als "Retter" der Familie, als "Ersatzmutter/-vater", als "perfekte" Mutter usw.)!

Den Kindern die Beziehung zum außenstehenden Elternteil erhalten

Für Sie als leiblicher Elternteil, aber genauso für Sie als Stiefelternteil, ist es oft schwer zu akzeptieren, dass die Kinder noch immer den außenstehenden Elternteil lieben, vielleicht sogar immer noch auf eine Versöhnung ihrer Eltern hoffen. Deshalb weisen sie den sich nun "zwischen ihre Eltern drängenden" Stiefelternteil zurück bzw. geraten in Loyalitätskonflikte, wenn sie ihn lieben und ihm gehorchen. Bedenken Sie einmal, wie schwer Ihnen die "psychische Scheidung" von Ihrem Ex-Partner fällt - dass Sie immer noch an ihn denken, immer noch positive und/oder negative Gefühle für ihn empfinden. Ihren Kindern fällt es in der Regel noch schwerer, das Auseinanderbrechen der Erstfamilie als endgültig zu akzeptieren und Versöhnungsphantasien aufzugeben, da sie ja nicht ähnlich große Konflikte mit ihrem Elternteil wie Sie mit Ihrem Ex-Partner erlebt haben. Loyalitätskonflikte und negative Gefühle gegenüber dem Stiefelternteil sind also zunächst einmal als normal zu betrachten. Verdeutlichen Sie Ihren Kindern (was mehr als "Sagen Sie Ihren Kindern" ist), dass sie den außenstehenden Elternteil weiter lieben, aber auch eine enge Beziehung zum Stiefelternteil aufbauen dürfen - ohne Schuldgefühle haben zu müssen. Machen Sie ihnen zugleich bewusst, dass sie Ihre neue Paarbeziehung nicht auseinanderbringen können. Wenn Ihre Kinder in der Phase der Teilfamilie eine besonders enge Beziehung zu Ihnen entwickelt haben und nun die Wiederheirat als eine Art "zweite Scheidung" erleben, benötigen sie Unterstützung bei der Verarbeitung von Gefühlen wie Eifersucht, Wut, Schmerz oder Verlustangst. Erklären Sie ihnen, was sie durch die Wiederheirat bzw. die Stieffamiliensituation "gewinnen".

Machen Sie sich bewusst, dass in der Regel Kinder den Kontakt zu beiden leiblichen Elternteilen wünschen und sich positiver entwickeln bzw. den Stiefelternteil eher akzeptieren, wenn diese Bedingung gegeben ist. Nicht nur bei gemeinsamer Sorge bleiben die leiblichen Eltern weiterhin die Eltern ihrer Kinder und sollten in der Erziehung zu einer effektiven Zusammenarbeit kommen. Zugleich muss in diesem Beziehungssystem Platz für den Stiefelternteil gemacht werden. Dies gelingt am besten, wenn sich alle drei Seiten auf eine Definition der Rolle des Stiefelternteils einigen können und beide leiblichen Eltern den Kindern ehrlich erlauben, den Stiefelternteil zu akzeptieren und zu lieben. Das mag Ihnen nur mit Hilfe einer Scheidungsberaterin oder einem anderen Fachmann gelingen - insbesondere, wenn Sie oder Ihr früherer Ehegatte bisher nicht gelernt haben/hat, die Partner- von der Elternebene zu trennen, und wenn immer noch Konflikte die Beziehung zwischen ihnen prägen.

Insbesondere wenn Sie beide leibliche Kinder mit in die Stieffamilie gebracht haben (auch wenn dies in einem Fall nur "Besuchskinder" sind, die jedes zweite Wochenende kommen) oder wenn der Stiefelternteil die Familienerziehung stark prägen will/soll, sollten Sie den Kindern verdeutlichen, dass in Ihrer Stieffamilie durchaus andere Regeln, Interaktionsmuster und Lebensstile gelten können als in der Erst- oder Teilfamilie. Beziehungsweise sagen Sie ihnen, dass sich auch die Stieffamilie und die Familie des außenstehenden Elternteils in dieser Hinsicht unterscheiden und sie sich dementsprechend immer wieder umorientieren müssen, dass dies aber durchaus akzeptabel ist.

Verhaltensauffälligen Kindern helfen

Aufgrund der besonderen Belastungen durch Trennung und Scheidung bzw. den Tod eines Elternteils, aufgrund von Problemen in der Teilfamilie oder während der Gründung Ihrer Stieffamilie, aber natürlich auch aus ganz anderen Gründen, haben Ihre Kinder unter Umständen Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen ausgebildet. Dann benötigen Ihre Kinder in der Regel eine besondere Unterstützung. Warten Sie nicht zu lange, sondern suchen Sie möglichst bald z.B. eine Erziehungsberatungsstelle oder einen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten auf. Hier finden Sie natürlich auch Hilfe bei Erziehungsschwierigkeiten und Schulproblemen.

Ferner müssen Sie häufig die Beziehungen zwischen Stiefgeschwistern neu ordnen: Geschwisterrivalität ist normal und sollte möglichst verringert werden. Auch sollten Sie jedem Kind eine Privatsphäre zusprechen (einen eigenen Raum oder zumindest ein abschließbares Fach). Bei jugendlichen Stiefgeschwistern dürfen Sie nicht die Augen vor erotischer Anziehung verschließen - manchmal kann es sogar zu sexuellen Beziehungen kommen. Diese sollten frühzeitig verhindert werden. Bedenken Sie, dass generell das Inzesttabu in Stieffamilien schwächer ausgeprägt ist - auch Stiefeltern können eine starke sexuelle Anziehung gegenüber einem Stiefkind erleben.

Die Ressourcen des Verwandtschaftssystems nutzen

Schließlich ist noch zu überlegen, welche Rolle Sie Ihren Eltern und Ihren Ex-Schwiegereltern bzw. dem gesamten Verwandtschaftssystem zuschreiben wollen. Bedenken Sie, dass Ihre Ex-Schwiegereltern die (geliebten) Großeltern Ihrer Kinder sind, dass diese oft auch enge Beziehungen zu Onkeln und Tanten bzw. den Neffen und Nichten Ihres Ex-Partners haben. Diese Personen können die Mitglieder Ihrer Stieffamilie in vielerlei Hinsicht unterstützen und für die Kinder ein ausgleichendes Element sein.