Familientagespflege
Martin R. Textor
Familientagespflege ist eine weit verbreitete Form der Fremdbetreuung von Kindern. Da sie in der Bundesrepublik Deutschland seit Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) keinerlei Genehmigung bedarf, wird leider seit 1990 nicht mehr erfasst, wie viel Kinder von Tagespflegepersonen betreut werden. Die letzten Angaben des Statistischen Bundesamtes beziehen sich nur auf die alten Bundesländer: Hier wurden 43.615 Tagespflegeverhältnisse im Jahr 1990 registriert. Nach der Jugendamtsbefragung von Tietze, Roßbach und Roitsch (1993) ist zu vermuten, dass eine etwa gleich hohe Zahl nicht gemeldet wurde, sodass man von rund 87.000 Tagespflegeverhältnissen in den alten Bundesländern (1990) ausgehen kann. Laut der vorgenannten Untersuchung war gut die Hälfte der Kinder unter drei Jahre und ein weiteres Drittel drei bis unter sechs Jahre alt. Kinder aus Teilfamilien waren stark überrepräsentiert. Die weitaus meisten Tagespflegestellen befanden sich in Städten. In gut der Hälfte der Fälle wurde nur ein Kind und in knapp 20% der Fälle wurden drei und mehr Kinder für durchschnittlich etwas mehr als acht Stunden am Tag fremdbetreut.
Während in Deutschland der Familientagespflege seit den 70er Jahren - dem Modellprojekt "Tagesmütter" des Bundesjugendministeriums (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980) - kaum noch Aufmerksamkeit seitens der Wissenschaft gezollt wurde, liegt aus dem angloamerikanischen Bereich eine ganze Reihe neuerer Forschungsergebnisse vor. Die Untersuchungsdesigns weisen eine zunehmend größer werdende Komplexität auf, da immer mehr Variablen als wichtig erkannt wurden und nun berücksichtigt werden müssen. Dazu gehören Charakteristika der Tagespflegepersonen (Alter, Qualifikationen, Einstellungen, Verhaltenstendenzen usw.), der Kinder (Alter bei Beginn der Tagespflege, Geschlecht, Entwicklungsstand usw.) und auch der Eltern (Einstellungen, Erziehungsverhalten, sozioökonomischer Status usw.), die Beziehungen zwischen Tagespflegeperson und Kind, zwischen den Kindern sowie zwischen Eltern und Kind, Erziehungsprogramm (Beschäftigungen) und kontextuelle Bedingungen (Räumlichkeiten, Ausstattung mit Spielmaterialien usw.). Zunehmend wird auch die Interaktion zwischen diesen Faktoren untersucht.
Im Folgenden werde ich vor allem neuere Forschungsergebnisse zur Qualität der Familientagespflege darstellen. Es werden vor allem ausländische Forschungsergebnisse referiert; dies ist bei den folgenden Aussagen immer zu berücksichtigen.
Zur Bewertung der Qualität von Tagespflege
Die Urteile über die Qualität von Familientagespflege fallen recht unterschiedlich aus, je nachdem, ob die Betroffenen gefragt oder Forschungsinstrumente eingesetzt wurden. Für den letztgenannten Fall steht beispielsweise eine empirische Untersuchung, nach der 9% der Tagespflegestellen als von guter Qualität (entwicklungsfördernd), 56% als ausreichend/ bewahrend und 35% als unzureichend beurteilt wurden (Galinsky et al. 1994).
"Regulated homes" (registrierte und besondere Standards befolgende Tagespflegestellen) wurden von den Wissenschaftlern etwas positiver bewertet: 12% waren qualitativ gut - wobei überraschenderweise ein genauso hoher Prozentsatz von Gruppen in Kindertageseinrichtungen dieses Prädikat bei der "National Child Care Staffing Study" erzielte (Whitebook/ Howes/ Phillips 1991).
Bei sechs Untersuchungen, bei denen die "Family Day Care Rating Scale" (FDCRS) von Harms und Clifford (1989) verwendet wurde, lagen die Durchschnittswerte laut Kontos (1992) zwischen 2,9 und 4,33 bzw. zwischen "fast ausreichend" und "fast gut". Auch bei einer neueren Untersuchung über 30 Tagespflegestellen wurde ein FDCRS-Wert von "ausreichend" erzielt (Kontos 1994).
Grubb (1993a, b) berichtet, dass von den 2.813 besuchten Tagespflegestellen in Texas durchschnittlich 7,1 der 116 vorgeschriebenen Minimalstandards nicht eingehalten wurden. Ansonsten wurden die Tagespflegestellen von den 14 Spezialisten, die sie für mehr als anderthalb Stunden besuchten, sehr viel positiver beurteilt, als dies bei den vorgenannten Untersuchungen der Fall war. Bei jedem der ausgewählten 21 Qualitätskriterien fanden sich im Durchschnitt nur 2 bis 3% der Tagespflegestellen, die als "schlecht", und circa 15%, die als "befriedigend" bewertet wurden - bei den Übrigen wurde das jeweilige Kriterium "gut", "sehr gut" oder sogar "exzellent" erfüllt.
Diese eher positive Bewertung von Tagespflegestellen wird von den betroffenen Eltern geteilt. So zeigten laut Kontos (1992) 13 Umfragen bei Eltern, dass fast alle mit der Familientagespflege zufrieden waren. Wurden bei den Untersuchungen Schätzskalen verwandt, kreuzten die Befragten durchgängig die höchsten Werte an. Als besonders zufrieden zeigten sich die Eltern mit der Sozialentwicklung ihres Kindes, der von ihm erfahrenen Zuwendung und positiven Entwicklungen in anderen Bereichen, aber auch mit der Flexibilität der Tagespflegeperson hinsichtlich Zeit und Dauer der Betreuung, ihrer Verlässlichkeit und der räumlichen Nähe. Nur wenige Eltern äußerten sich bei den Umfragen kritisch, vor allem hinsichtlich des Wohlbefindens und der Erziehung ihres Kindes.
Beispielsweise gaben bei der "National Day Care Home Study" (Divine-Hawkins 1981) mehr als 60% der Eltern an, dass sich das Sozialverhalten ihres Kindes verbessert habe; ein Drittel der Befragten meinte dasselbe hinsichtlich seiner Sprachfertigkeiten und kognitiven Entwicklung. Ein Fünftel der Eltern sah in der familiären Atmosphäre der Tagespflege einen besonderen Vorteil. Nur 10% der befragten Eltern konnten von einer negativen Erfahrung ihres Kindes während des laufenden oder eines früheren Pflegeverhältnisses berichten, wobei es sich zumeist um eine Verletzung (etwas über 2%), mangelnde Beaufsichtigung (2%) oder körperliche Misshandlung (unter 2%) handelte.
Auch bei dem Modellprojekt "Tagesmütter" waren die befragten Eltern sehr zufrieden: "80% geben an, sie würden sich, falls sie noch einmal wählen könnten, erneut für ihre Tagesmutter entscheiden - und die meisten Eltern halten die Tagesmütter generell für pädagogisch geeignet, engagiert und hilfsbereit" (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980, S. 168). Nur wenige sahen in der Kinderkrippe eine Alternative. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass bei drei Untersuchungen, bei denen sowohl Eltern mit Kindern in Tagespflege als auch solche mit Kindern in Tageseinrichtungen befragt wurden, die Zufriedenheit mit der Familientagespflege entweder gleich groß (Andersson/ Kihlblom/ Sandqvist 1993) oder sogar größer als die Zufriedenheit mit der institutionellen Fremdbetreuung war (Erdwins/ Buffardi 1994; Erwin et al. 1993).
Zumindest nach einer amerikanischen Untersuchung lässt sich vermuten, dass auch die Tagespflegepersonen mit der von ihnen geleisteten Arbeit zufrieden sind (Atkinson 1991). Die Befragten meinten, dass sie einerseits den Bedürfnissen der Kinder entsprachen, insbesondere hinsichtlich der Qualität des Essens, der Sicherheit, der Gesunderhaltung, der persönlichen Betreuung, der Erziehungsmethoden und der Förderung der Selbstständigkeit. Andererseits befriedigten sie ihrer Meinung nach die Bedürfnisse der Eltern, vor allem bezüglich der Verlässlichkeit und Stabilität ihres Betreuungsangebotes, ihrer Offenheit für Besuche und Gespräche über das Kind, der Übereinstimmung von Werten und der Anpassung der Betreuungszeit an die Wünsche der Eltern. Die befragten Eltern waren ebenfalls der Meinung, dass ihren Bedürfnissen und denjenigen der Kinder entsprochen wird, und zeigten sich sehr zufrieden.
Aspekte einer qualitativ guten Tagespflege
Im Folgenden soll und kann der Widerspruch zwischen der Bewertung von Familientagespflege durch Wissenschaftler auf der einen sowie Eltern und Tagespflegepersonen auf der anderen Seite nicht aufgeklärt werden. Stattdessen soll dargestellt werden, welche Faktoren eine qualitativ gute Familientagespflege ausmachen. So beschäftigten sich viele Untersuchungen mit dem Einfluss der Qualifikation von Tagespflegepersonen. Nur etwas positiv wirkte sich eine höhere Bildung auf die Qualität der Familientagespflege aus (Clarke-Stewart 1987; Divine-Hawkins 1981; Fischer/ Eheart 1991; Galinsky et al. 1994); ähnliches galt für allgemeine Kenntnisse im Bereich der Kinderpsychologie (Galinsky et al. 1994; Pence/ Goelman 1991). In vielen Untersuchungen wurde jedoch ein starker Effekt einer speziellen Ausbildung für die Tätigkeit als Tagespflegeperson ermittelt (Divine-Hawkins 1981; Fischer/ Eheart 1991; Fosbury 1981; Galinsky et al. 1994; Grubb 1993a, b; Pence/ Goelman 1991).
Ferner wirkte sich positiv auf die Qualität der Familientagespflege aus, wenn die Befragten hierin eine Beschäftigung auf Dauer sahen (Goelman/ Shapiro/ Pence 1990; Pence/ Goelman 1991), ein professionelles Selbstverständnis besaßen (a.a.O.), Kontakt zu anderen Tagespflegepersonen hatten bzw. Mitglied eines Verbandes waren (Fischer/ Eheart 1991; Fosbury 1981; Galinsky et al. 1994; Grubb 1993a; Pence/ Goelman 1991) und bereits viel "Berufserfahrung" hatten (Kontos 1992). "Gute" Tagespflegepersonen betreuten mehr Kinder (drei bis sechs) gleichzeitig (Galinsky et al. 1994; Goelman/ Shapiro/ Pence 1990; Pence/ Goelman 1991) und - nach einer Untersuchung - auch eigene Kinder im Vorschulalter (Kontos 1994).
Goelman, Shapiro und Pence (1990) stellten fest, dass sich bestimmte Familiensituationen von Tagespflegepersonen auf die Qualität der Betreuung auswirkten: "Diese Familien bieten dem Einzelnen ein hohes Maß an Unterstützung und Hilfe. Sie messen der Unabhängigkeit jedes Mitglieds und der Fähigkeit zur Selbstgenügsamkeit einen hohen Wert bei. ... Die Mitglieder dieser Familien betonen die aktive Mitwirkung bei sozialen und Freizeitaktivitäten und haben ihre Familienfunktionen klar organisiert und sinnvoll strukturiert. Diese Familien tendieren auch dazu, ihren Mitgliedern mehr intellektuelle und kulturelle Aktivitäten zu bieten, als Familien mit qualitativ schlechterer Tagespflege" (S. 18). Personen aus Familien, in denen ihre Bedürfnisse befriedigt wurden, in denen das Zusammenleben abwechslungsreich war und in denen alle Mitglieder das Tagespflegeangebot mittrugen, erwiesen sich als die besseren Betreuer. Hingegen spielten Leistungsorientierung, die moralisch-religiöse Dimension, die ausgeübte Kontrolle oder die Beziehungsgestaltung (Nähe, Konflikthaftigkeit usw.) keine Rolle.
Auf die Qualität der Familientagespflege wirkt sich ferner die Art der Beziehung zwischen Tagespflegeperson und Kind aus (Grubb 1993b). So liess sich z.B. bei einer guten Betreuung ein hohes Ausmaß an positiven Interaktionen zwischen beiden Seiten feststellen (Rosenthal 1991a).
Von ebenfalls großer Bedeutung waren das Betreuungsprogramm sowie die Raumgestaltung und -ausstattung, wobei alle gerade genannten Variablen miteinander korrelierten, aber nicht notwendigerweise in jedem Fall einer qualitativ guten Tagespflege vorhanden waren (a.a.O.; Grubb 1993b). Zumeist waren die Räume, in denen sich die betreuten Kinder aufhalten, kindgemäß gestaltet und mit Spielsachen, Musikinstrumenten, Mal- und Bastelutensilien, didaktischen Spielen und Materialien für Rollenspiele ausgestattet. Die Tagespflegeperson erzählte häufiger Geschichten, musizierte mehr mit den Kindern, machte mit ihnen öfters Spiele zur Sprachförderung und zur Entwicklung des Zahlenverständnisses, regte häufiger zum Rollenspiel, zum Malen und zu (grob-/ fein-)motorischen Aktivitäten an und ließ sehr viel seltener Fernsehen zu (Fosbury 1981; Goelman/ Pence 1987; Kontos 1992; Pence/ Goelman 1991; Rosenthal 1991a).
Rosenthal (1991b) stellte beim Vergleich zwischen Tagespflege und institutioneller Fremdbetreuung fest, dass es keine Unterschiede hinsichtlich der erzieherischen Qualität der Raumgestaltung und -ausstattung gab und dass der Zeitanteil von angeleiteten Beschäftigungen gleich groß war.
Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung
Eine qualitativ gute Familientagespflege wirkt sich positiv auf die Sprach- und die kognitive Entwicklung der betreuten Kinder aus. Hier spielten vor allem die Intensität, die erzieherische Qualität und die emotionale Tönung der Interaktionen zwischen Tagespflegeperson und Kind eine Rolle (Clarke-Stewart 1987; Kontos 1992, 1994). Für die kognitive Entwicklung war ferner von Bedeutung, wie geistig stimulierend das Betreuungsprogramm war, ob viel vorgelesen und erzählt wurde, wie anregend die Spielmaterialien waren und ob es sich um eine erfahrene Tagespflegeperson handelte (Clarke-Stewart 1987; Goelman/ Shapiro/ Pence 1990; Kontos 1994). Bei einer Vergleichsstudie zeigte sich, dass die genannten Faktoren bzw. die Qualität der Betreuung für die kognitive Entwicklung der Kinder von größerer Bedeutung als die Betreuungsform - Familientagespflege, Tageseinrichtung oder Kibbuz - war (Rosenthal 1991b; vgl. Goelman/ Pence 1987).
Howes und Stewart (1987) ermittelten, dass Kinder bei einer qualitativ besseren Tagespflege mehr mit Gegenständen und Erwachsenen spielten, Mädchen auch mehr mit Gleichaltrigen. Auch waren Kinder, die jünger bei Beginn der Fremdbetreuung waren, kompetenter in ihrem Spiel mit Materialien und Gleichaltrigen. Rosenthal (1991c) stellte fest, dass Kinder mehr Zeit im Spiel miteinander verbrachten und positiver interagierten, wenn der zur Verfügung stehende Raum begrenzt war (wenig Platz zum Alleinsein), wenn die Tagespflegeperson großen Wert auf bildende Beschäftigungen mit allen anwesenden Kindern legte und wenn auch ihre Interaktionen mit den Kindern positiv verliefen. Vergleichsuntersuchungen zeigten, dass es die Sozialentwicklung kaum beeinflusste, ob das jeweilige Kind in Familientagespflege oder in einer Tageseinrichtung betreut wurde (Lamb et al. 1988, 1990).
Im Modellversuch "Tagesmütter" zeigte es sich, dass die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern recht problemlos verlief, wenn die Familientagespflege im ersten Lebensjahr begann (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980; Gudat 1982; Permien 1996). Kinder, bei denen die Betreuung im zweiten Lebensjahr anfing, entwickelten jedoch Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, motorische Unruhe, Desinteresse am Spielen oder mangelnde Konzentrationsfähigkeit, die noch zwei Jahre später zu beobachten waren. Bei einer neueren Untersuchung ergaben sich keine Unterschiede zwischen Kindern in Tagespflege und institutioneller Fremdbetreuung hinsichtlich der Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten (Erwin et al. 1993). Diese schienen mehr durch Eigenschaften des Kindes (z.B. Temperament) und durch die Familie (z.B. Erziehungsstil) bedingt zu sein als durch die Betreuungssituation.
Mit dem vorangegangenen Satz wurde bereits angedeutet, dass die kindliche Entwicklung nur zum Teil durch die Qualität der Tagespflege beeinflusst wird - die größere Wirkung dürfte wohl von der Familie ausgehen. Wurde die Variable "Qualität der Tagespflege" kontrolliert, so konnte man feststellen, dass diejenigen Kinder mehr Fortschritt im kognitiven und sozialen Bereich machten, die aus guten Familienverhältnissen kamen (sichere Bindungen, keine größeren Probleme usw.), deren geistige Entwicklung stimuliert wurde, mit denen die Eltern mehr spielten, die mehr enge Beziehungen zu Verwandten und Bekannten hatten und deren Eltern viele Freunde hatten und somit Vorbilder für interpersonale Kompetenzen waren (Clarke-Stewart 1989; Howes/ Stewart 1987). So erklärten bei einer Untersuchung Familiencharakteristika die Sprach-, kognitive und soziale Entwicklung besser als Variablen der Tagespflegesituation (Kontos 1994). Gudat (1982) ergänzte: "Die Zufriedenheit der Mutter mit ihrer Situation als Frau, ihre Sicherheit, mit der sie ihre eigenen Interessen, Berufstätigkeit und Mutterrolle balanciert, beeinflusst die Entwicklung des Kindes und die Mutter-Kind-Beziehung langfristig stärker als die Umstände der Betreuungsform" (S. 194). Bedenkt man die große Bedeutung der Familie, so überrascht nicht, dass sich die Kinder besser entwickelten bzw. die Qualität der Tagespflege besser war, wenn die Pflegeperson und die Eltern häufig miteinander sprachen und ihre Erziehungsvorstellungen ähnlich waren (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980; Grubb 1993b; Pence/ Goelman 1991).
Ausblick
Mangels deutscher Forschungsergebnisse über die Qualität von Familientagespflege wurde auf ausländische zurückgegriffen. Abgesehen von dem Problem der Übertragbarkeit auf hiesige Verhältnisse - beispielsweise spielen in anderen Ländern Ausbildung, Lizensierung oder Supervision von Tagespflegepersonen eine größere Rolle als in Deutschland - muss berücksichtigt werden, dass die meisten Untersuchungen an kleinen, nicht repräsentativen und eher willkürlich ausgewählten Stichproben durchgeführt wurden (auch die befragten Eltern und die getesteten Kinder können sich je nach Studie hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status oder ihrer Lebenssituation unterscheiden). Hinzu kommt, dass verschiedene bzw. unterschiedlich definierte Variablen untersucht und immer wieder andere Forschungsinstrumente eingesetzt wurden. So sind die Forschungsergebnisse nur mit größten Vorbehalten vergleichbar oder zu verallgemeinern.
In der Regel wurde bei den Untersuchungen "Qualität von Familientagespflege" nicht als globales Konzept verstanden. Vielmehr wurden verschiedene Struktur- (z.B. Räumlichkeiten, Ausstattung mit Möbeln und Spielmaterialien) und Prozessfaktoren (Interaktionen zwischen Tagespflegeperson und Kind/ Eltern sowie der Kinder untereinander, Beschäftigungen usw.) berücksichtigt. Dabei wurden zunehmend Familienvariablen einbezogen, da es sich zeigte, dass ein Ignorieren dieser Einflüsse die Forschungsergebnisse verfälschte (Howes/ Stewart 1987; Kontos 1994). Jedoch konnte bisher die Vielzahl der Variablen weder angemessen konzeptualisiert noch in ihren Interaktionen befriedigend untersucht werden. So ist mit Kontos (1992) zu fordern: "Untersuchungen sind nötig, bei denen die Beziehungen zwischen den vielen ökologischen Ebenen erfasst werden, die Kinder, Familien und Familientagespflege betreffen. Erst wenige Studien haben gleichzeitig Charakteristika der Tagespflegeperson, Bedingungen der Betreuung, Verhaltensweisen der Tagespflegeperson und die allgemeine Qualität der Kinderbetreuung in Verbindung mit Prozess- und Ergebnisdaten über die kindliche Entwicklung und mit Familienfaktoren ermittelt. Die Einbeziehung von so vielen Variablen setzt große Stichproben voraus. Aufgrund der regionalen Unterschiede hinsichtlich der Regelung von Tagespflege, des Betreuungsangebots und der demographischen Charakteristika von Familien sind zudem Stichproben von verschiedenen Orten wünschenswert, um auf diese Weise die Validität und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu verbessern" (S. 33). Aber auch Längsschnittuntersuchungen sind nötig, um Langzeitwirkungen ermitteln zu können.
Bisher lässt sich nur festhalten, dass eine qualitativ gute Familientagespflege die kindliche Entwicklung eher fördert als beeinträchtigt und nicht schlechter als die Betreuung in einer Tageseinrichtung ist. Die Unterschiede hinsichtlich der Qualität innerhalb der jeweiligen Betreuungsform sind größer als die Unterschiede zwischen beiden Formen (Gudat 1982; Lamb et al. 1988, 1990; Phádraig 1994). Eine qualitativ hochwertige Familientagespflege zeichnet sich u.a. durch eine einschlägige Ausbildung der Tagespflegeperson, ein professionelles Selbstverständnis, Registrierung der Tagespflegestelle anhand bestimmter Kriterien (Fischer/ Eheart 1991; Fosbury 1981; Pence/ Goelman 1991), das Einhalten bestimmter Standards (Grubb 1993a), kindgemäße Räumlichkeiten, das Vorhandensein entwicklungsfördernder (Spiel-)Materialien, positive Interaktionen zwischen Tagespflegeperson und Kind, vielfältige Beschäftigungen und eine begleitende Beratung durch sozialpädagogische Fachkräfte aus (vgl. Schumann 1996).
Bezieht man die Forschungsergebnisse auf die Situation in Deutschland, wird die Notwendigkeit einer Registrierung, Ausbildung und Beratung von Tagespflegepersonen sowie ihrer gegenseitigen Unterstützung in Gruppen deutlich (Schumann 1996). Die frühere Jugendministerin Angela Merkel (1994) schrieb hierzu: "Ich bedaure es deshalb in diesem Zusammenhang auch, dass mit dem neuen KJHG die Notwendigkeit der Pflegeerlaubnis für die Betreuung von weniger als vier Kindern weggefallen ist. Leider ist zudem der Wegfall der generellen Pflegeerlaubnis von einigen Gemeinden als Signal aufgefasst worden, sie seien im Zusammenhang mit der Tagespflege nicht mehr gefragt" (S. 6). Dies sei nicht richtig, da nach dem SGB VIII sowohl die Tagespflegeperson als auch die Eltern einen Anspruch auf fachliche Beratung und Unterstützung durch die Jugendhilfe haben. Merkel (a.a.O.) ergänzte: "Gute Vorbereitung und Qualifizierung sind wesentliche Voraussetzung für die Stabilität der Tagespflegeverhältnisse" (S. 6).
Es ist an der Zeit, dass diese Erkenntnisse zum Wohle der betroffenen Kinder von der Jugendhilfe aufgegriffen und umgesetzt werden. Die Notwendigkeit wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass nach einer Untersuchung des Berliner Instituts INFANS mehr als 40% der erfassten rund 4.500 Tagespflegeverhältnisse höchstens sechs Monate Bestand hatten (Laewen/ Hédervári/ Andres 1991). Die mangelnde Stabilität dieser Betreuungsform dürfte mit negativen Folgen für die betroffenen Kinder verbunden sein.
Die für eine Verbesserung der Situation im Bereich der Tagespflege notwendigen Grundlagen sind in Deutschland längst vorhanden - z.B. ein praxisorientiertes Handbuch für Tagesmütter und sozialpädagogische Fachkräfte (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1996) sowie Konzepte, Methoden und Curricula für die Aus- und Fortbildung von Tagespflegepersonen, Videofilme und entsprechende Beratungsansätze (a.a.O.; INFANS o.J.a, b; tagesmütter Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege e.V. 1996). Unterstützung bietet auch der tagesmütter Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege e.V., dem eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen angeschlossen ist und der neben einer Fachzeitschrift verschiedene Informationsschriften herausgibt.
Quelle
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