Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten bei Schüler/innen
Martin R. Textor
Nach verschiedenen Untersuchungen können zwischen 20 und 25% aller Schüler/innen als verhaltensauffällig oder psychisch gestört eingestuft werden; mindestens 5% sind behandlungsbedürftig. Die Symptome können im körperlichen (z.B. Essstörungen, Nägelkauen), im psychischen (Ängstlichkeit, Depressivität, Konzentrationsstörungen usw.) oder im sozialen (Aggressivität, Schüchternheit) Bereich liegen. Der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern ist inzwischen zur größten beruflichen Belastung von Lehrer/innen geworden.
Generell wird zwischen externalisierenden und internalisierenden Formen von Verhaltensauffälligkeiten unterschieden. Zu den erstgenannten gehören hyperkinetische Verhaltensweisen (wie Zappeligkeit, hohe Ablenkbarkeit, Impulsivität) und aggressives Verhalten (wie Schlagen, Treten von Personen, Beschädigen von Gegenständen). Zu den internalisierenden Formen werden Schulangst, Kontaktvermeidung, Überängstlichkeit und ängstlich-depressives Verhalten gerechnet.
Da der Mensch ein "Körper-Seele-Geist-Wesen" ist, muss die Lehrkraft bei der Suche nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten von einem der Wirklichkeit entsprechenden ganzheitlichen Menschbild ausgehen, also somatische, emotionale und psychische Faktoren berücksichtigen. Schüler/innen leben aber nicht isoliert, sondern in verschiedenen Systemen. Deshalb muss eine ganzheitliche Betrachtung auch Einflüsse von Familie, Schule, Peers usw. berücksichtigen. Sucht man nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten, ist somit grundsätzlich von ihrer Multikausalität auszugehen.
Ursachen im Kind
In vielen Fällen spielen Faktoren wie Erbanlagen, Dispositionen, Entwicklungsverzögerungen, (unerkannte) Behinderungen, Geburtsschäden, langwierige Krankheiten, Fehlernährung, Mangel an Antriebskraft, Hyperaktivität, Reizbarkeit, Überempfindlichkeit und geringe Frustrationstoleranz eine Rolle. Ferner können Kinder aufgrund von Traumata unter großen Ängsten leiden, sich wegen negativer Erfahrungen abkapseln, unter Wahrnehmungsstörungen leiden oder aufgrund fehlender Kontakte zu Gleichaltrigen zu wenig soziale Fertigkeiten besitzen.
Viele Kinder erlernen auffällige Verhaltensweisen in ihren Familien, indem sie andere Mitglieder unbewusst nachahmen. Häufig versuchen sie auch, durch derartige Reaktionen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ihnen dies durch ein sozial akzeptiertes Verhalten nicht gelingt, wenn sie also z.B. vernachlässigt werden oder aufgrund von extrem hohen Erwartungen nur selten ein Lob erhalten. Die Reaktionen der anderen Familienmitglieder, egal ob es sich dabei um Strafen, Verärgerung, Angst oder Sorge handelt, werden dann als Selbstbestätigung und Zeichen von Anteilnahme und Interesse gedeutet. Sie wirken also als positive Verstärker, erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Verhaltensauffälligkeiten und führen zu ihrer Verfestigung. Schließlich verhalten sich die Kinder auch außerhalb der Familie auffällig - insbesondere wenn dort ihr Verhalten ebenfalls positiv verstärkt wird, sie sich also z.B. aufgrund ihrer Aggressivität eine führende Position in der Klasse erkämpfen können und von den anderen Kindern bewundert werden.
Ursachen in der Familie
Häufig sind in Familien, in denen Kinder verhaltensauffällig werden, auch andere Personen mehr oder minder stark gestört (z.B. depressiv, gewalttätig, suchtkrank). Ferner werden oft Kommunikationsstörungen und ungewöhnliche Interaktionsmuster festgestellt. Unter diesen Umständen lernen Kinder nicht, sich klar und deutlich auszudrücken, Gedanken und Gefühle auf angemessene Weise zu äußern, richtig zuzuhören oder den Sinn unverstandener Botschaften mit Hilfe von Rückfragen zu ermitteln. Häufig erleben sie, dass ihre Mitteilungen ignoriert oder disqualifiziert werden.
Die Entwicklung von Kindern wird vor allem dann geschädigt, wenn die Eltern ihrer erzieherischen Funktion nicht nachkommen. So erfüllen manche Männer ihre väterlichen Pflichten nicht, weil sie zu sehr durch den Beruf beansprucht werden oder Pflege und Erziehung entsprechend dem traditionellen Geschlechtsrollenleitbild ihren Partnerinnen als Aufgabe zuweisen. Da eine zunehmende Zahl von Frauen vollerwerbstätig bleibt und weil ganztägige Betreuungsangebote noch vielerorts "Mangelware" sind, wurden ihre Kinder oft von verschiedenen Personen versorgt, was z.B. zu unsicheren Bindungen führen kann.
Häufig kommt es auch zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten, wenn die Eltern einen der folgenden Erziehungsstile praktizieren: Vernachlässigung, Verwöhnung, Überbehütung, autoritäre Erziehung, antiautoritäre Erziehung oder inkonsistente (wechselhafte) Erziehung. In all diesen Fällen werden den Kindern keine optimalen Entwicklungsbedingungen geboten. Sie fühlen sich abgelehnt und ungeliebt (bei Vernachlässigung), entwickeln keine Leistungsbereitschaft und kein Selbstvertrauen (bei Verwöhnung), bleiben von ihren Eltern abhängig (bei Überbehütung), werden in ihrer Individuation behindert (autoritäre Erziehung), lernen keine Selbstkontrolle (antiautoritäre Erziehung) oder sind orientierungslos (inkonsistente Erziehung).
Manchmal fehlen Eltern auch die für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder notwendigen Fertigkeiten. Häufig können sie sich nicht auf Regeln für das Verhalten ihrer Kinder einigen. So verinnerlichen diese keine Verhaltensmaßstäbe (und sind deshalb in der Schule zunächst nicht in der Lage, sich Regeln anzupassen). Ferner wirkt sich negativ aus, wenn Regeln unklar sind, dem Alter der Kinder nicht angemessen sind oder von den Eltern nicht durchgesetzt werden. In vielen Familien können Kinder auch unkontrolliert Medien konsumieren - was sich sowohl auf den zeitlichen Umfang als auch auf die Inhalte (z.B. indizierte Videos, Pornos) bezieht.
Oft leiden Kinder unter den Konflikten ihrer Eltern. Kleinere Kinder glauben häufig, dass sie an diesen Problemen schuld seien. Oder sie versuchen unbewusst, die Eltern durch auffälliges Verhalten von ihren Konflikten abzulenken: Müssen diese sich auf ein aggressives, trotzendes oder unter psychosomatischen Symptomen leidendes Kind konzentrieren, können sie nicht miteinander streiten oder einander "anschweigen". Hier gewinnen die Kinder eine große Macht, da sie im Mittelpunkt des Familienlebens stehen, Schuldgefühle und Ängste hervorrufen und auf diese Weise die Eltern zu bestimmten Reaktionen zwingen können. Zudem erfahren sie einen sekundären Krankheitsgewinn, da sich die Eltern immer mehr um sie bemühen.
Bei häufigen Ehekonflikten und zunehmender Entfremdung wenden sich einige Eltern auch unbewusst an ihre Kinder zwecks Befriedigung ihrer emotionalen Bedürfnisse, machen sie zu Ersatzpartnern. In einzelnen Fällen werden Kinder sogar für die Familienprobleme verantwortlich gemacht (z.B. wenn wegen ihnen geheiratet werden "musste") und zum Sündenbock erklärt. Direkt nach einer Trennung ihrer Eltern mögen Kinder auch ihre Verzweiflung und Trauer ausagieren oder ängstlich-depressiv werden.
Sind Kinder den beschriebenen Einflüssen ausgesetzt, werden sie also oft psychisch krank und verhaltensauffällig. Ihre Symptome sind dann verständliche und sinnvolle Reaktionen auf eine gestörte Umwelt. Sie sind eine Funktion zwischenmenschlicher Beziehungen und können nur im Kontext des Familienlebens verstanden werden.
Ursachen in der Schule
Aus verständlichen Gründen wird von Lehrer/innen oft ignoriert, dass die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten auch in der Schule liegen können. Beispielsweise sind in manchen Klassen die Regeln unklar oder bleibt deren Missachtung ohne Konsequenzen. Die Kinder fühlen sich verunsichert und reagieren mit "schwierigen" Verhaltensweisen, um die Grenzen zu testen.
Manchmal werden Verhaltensauffälligkeiten von den Lehrer/innen verstärkt, indem sie mit Aufmerksamkeit und Zuwendung "belohnt" werden. Diese Funktion können natürlich auch die anderen Kinder übernehmen, wenn sie z.B. auf Clownerie mit Gelächter reagieren, auf Aggressivität mit Nachgeben oder auf Gewalttätigkeit mit Angst. Auf solche Weise wird die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von auffälligen Verhaltensweisen erhöht, entsteht ein "Teufelskreis".
Aber auch wenn "Problemkinder" den Eindruck gewinnen, dass sie von den anderen Kindern abgelehnt werden oder dass die Lehrkräfte ihnen gegenüber Antipathie empfinden, kann dies zu mehr Auffälligkeiten führen. Dasselbe gilt für Verhaltenserwartungen ("Michael wird immer aggressiver"), die schnell zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden können. Wird ein Kind z.B. als sehr aggressiv wahrgenommen, besteht auch die Gefahr, dass es entsprechend "etikettiert" wird: Es wird bald nur noch seine Gewalttätigkeit gesehen, während seine "guten Seiten" zunehmend ignoriert werden. Solche Zuschreibungen fördern Verhaltensauffälligkeiten, da sich das Kind für seine positiven Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Interessen nicht mehr bestätigt erlebt.
Problematisch sind ferner Vorurteile gegenüber einem Kind und/oder seiner Familie, beispielsweise weil die Eltern aus unteren sozialen Schichten kommen, zugewandert sind, in Scheidung leben oder alleinerziehend sind. Negativ bewertet werden manchmal auch Eltern, die z.B. suchtkrank, depressiv oder arbeitslos sind. Die daraus resultierenden Voreinstellungen gegenüber dem jeweiligen Kind können zu den bereits erwähnten Verhaltenserwartungen ("Ein Kind aus solchen Familienverhältnissen ist bestimmt auffällig!") und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen.
Auch die Art des pädagogischen Angebots kann zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten beitragen. Fühlen sich Kinder z.B. gelangweilt und ungenügend gefordert, fangen sie schnell an, herumzutoben, aggressiv zu werden oder sich "abzukapseln". Insbesondere hoch begabte Kinder leiden unter einem wenig abwechslungsreichen Unterricht und unzureichender Differenzierung.
Zum Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten können schließlich die Rahmenbedingungen beitragen: In zu großen Klassen "gehen" z.B. schüchterne Kinder "unter": Sie ziehen sich in ihr "Schneckenhaus" zurück - und dies fällt Lehrer/innen bei den vielen Kindern in ihrer Klasse oftmals erst spät auf. Andere Kinder, insbesondere wenn sie in ihren Familien im Mittelpunkt stehen, können in einer großen Klasse nur dann die gewohnte Aufmerksamkeit erlangen, wenn sie aggressiv sind, herumtoben oder anderweitig ausagieren. In großen Klassen sind die Lehrer/innen eher überlastet und gestresst (bis hin zum "Burn-out-Syndrom"), sodass sie leicht überreizt und unangemessen reagieren.
Andere Rahmenbedingungen, die sich negativ auswirken können, sind zu kleine Räume, fehlendes oder sehr kleines Außengelände oder häufig wechselndes Personal. In sozialen Brennpunkten treten oft Kinder mit besonderen Bedürfnissen geballt auf und überfordern die Lehrkräfte. Häufig sind diese auch unzureichend qualifiziert für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern (und ihren Eltern), beklagen z.B. fehlende Kenntnisse aus dem Bereich der Heil- bzw. Sonderpädagogik und der Gesprächsführung.
Ursachen in den Peer-Beziehungen
Manche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern liegen in der Beziehung zu den anderen Kindern. So ist es für Kinder sehr belastend, wenn sie keine Freunde haben oder in der Klasse keine Beachtung finden. Dann fühlen sie sich einsam, ziehen sich immer mehr zurück und entwickeln ein negatives Selbstbild. In anderen Fällen versuchen sie, durch auffällige Verhaltensweisen (Gewalt, Clownerie usw.) die Aufmerksamkeit der Gleichaltrigen auf sich zu ziehen und ihre Position in der Klasse zu verbessern.
Manche Kinder werden aufgrund bestimmter Charakteristika (z.B. nicht vorhandene Sprachkenntnisse, "abstoßende" Körpermerkmale, mangelnde Hygiene, Unbeholfenheit) von den anderen Kindern ignoriert oder diskriminiert bzw. gehänselt und gemobbt. Anderen Kindern werden Rollen wie die des Gruppenclowns, des Sündenbocks, der "Schlafmütze" oder der "Heulsuse" zugewiesen. In all diesen Fällen steigt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten.
Quelle
Aus: Martin R. Textor: Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in der Schule. Gründe, Ziele, Formen. Norderstedt: Books on Demand 2009, S. 57-61